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DEMNÄCHST

LESESTOFF

SIDDHARTHA

LIEBE, WEISHEIT UND DIE HEILIGKEIT DES LEBENS (Inhalt & Interpretation)

Cornelia Metschitzer, 31.08.2023

Sieh, Govinda, Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit. Siddhartha

Dass Weisheit nur durch Erfahrung und Empfindung möglich wird und nicht durch Wissen, erzählt uns Hermann Hesse in seinem Buch SIDDHARTHA in höchster Vollendung. Und dass es vor allem die Liebe braucht, um gut bei sich selbst und in der Welt anzukommen.

 

Siddhartha, der von allen geliebte und mit allem begabte Sohn eines Brahmanen, verlässt früh seinen vorbestimmten Weg, denn weder die Zuneigung der Seinigen, noch ihre heiligen Bücher können ihn ganz erfüllen. Und so macht sich der Ruhelose und Wissbegierige auf eine Reise ins Ungewisse. Nur seinem inneren Kompass folgend, wird er ein ganzes Leben und viele Neuorientierungen brauchen, um sein lange nur geahntes Ziel zu erreichen: Weisheit und inneren Frieden.

 

Doch zuvor muss Siddhartha viele Erfahrungen sammeln, muss sich in viele Gestalten verwandeln, vom besitzlosen Mönch bis zum habgierigen Lüstling. Aber an allen Stationen seines Lebens kreuzen Menschen seinen Weg, von denen er viel lernen kann, auch wenn er allen kollektiven Lehren misstraut.

 

Es ist der Fluss, der schließlich Siddharthas größter Lehrmeister wird. An einem Fluss wird er geboren, hier vollzieht er als Knabe zusammen mit Govinda seine heiligen Waschungen, auf ihm wechselt er als Jüngling über in die Welt des Geldes und der Lüste, in ihm will er sich bei seiner Rückkehr aus der „gepolsterten Hölle“ ertränken. Dann aber vernimmt er an seinem Ufer das heilige Om seiner Kindheit und trifft wie durch ein Wunder auch seinen Kindheitsfreund Govinda wieder.

Am Fluss verbringt Siddhartha dann auch den Rest seines Lebens, zusammen mit dem Fährmann Vasudeva, der sein neuer Freund wird, und von dem er lernt, den Fluss zu lieben und ihm zuzuhören. Ruhig und besonnen kann so ein Fluss dahinströmen, und dann wieder schlägt er hohe Wellen und ist wild und gefährlich. Wie Siddharthas Leben, wie das Leben vieler, doch vor allem ist er der Zeit entronnen, denn er fließt überall zugleich. Siddhartha wird später von ihm lernen, im Augenblick zu sein und sich mit dem Leben auszusöhnen. Es wird seine ganz persönliche Erlösung vom Leiden sein, seine Erleuchtung, die ihm selbst der hoch verehrte Buddha nicht in Worten vermitteln kann, sondern nur durch seine Aura. Vor seiner eigenen Vollendung muss Siddhartha jedoch noch lernen, die „Kindermenschen“ zu lieben und sie zu verstehen. Das ist allerdings eine schwere Lektion, und doch ist sie der lange nicht gefundene Schlüssel, der ihm die Türen öffnet zu allem, wovon er sich immer getrennt sah.

Und Siddhartha trennt vieles von den anderen Menschen, darum kann er sie auch alle immer so plötzlich wieder verlassen. Wie den treuen Govinda, der ihn seit Kindesbeinen liebt und an ihn glaubt wie kein anderer, der einst mit Siddhartha das Dorf seiner Älteren verlassen hat, um sich den Samanas anzuschließen, den Asketen im Wald, und den er aber auf seinem Weg in die Stadt bei Buddha zurücklässt. „Warum hast du mich verlassen“, legt er Govinda in seinem Traum noch in den Mund und trinkt von seinem Busen, um all die Liebe einzusaugen und mitzunehmen, zu der er selber nicht fähig ist. Doch noch lange lässt Siddhartha auch in der Stadt niemanden ganz in sein Herz hineinschauen, obwohl ihm selber alle Herzen zufliegen. Nur die schöne und kluge Kurtisane Kamala, die später eine Buddhistin wird, darf ihm vom ersten Augenblick an ganz nah sein. Früh schon durchschaut sie den eigenwilligen Siddhartha und erkennt, dass er nicht lieben kann, und trotzdem wird sie lange seine Geliebte und Vertraute bleiben. Weil sie es selbst auch nicht kann und deshalb die Liebe als eine Kunst bzw. als ein Geschäft betreibt. Als Siddhartha wie der Teufel die Stadt der Sinne wieder verlässt, ist sie die einzige, die sich nicht wundert. Und sie öffnet ihrem Singvogel den goldenen Käfig und schickt ihn Siddhartha hinterher.

Siddhartha und Kamala werden sich eines Tages auf wundersame Weise wiedersehen, wenn auch unter tragischen Umständen. Als sie ihm nämlich den gemeinsamen Sohn, von dem er nichts wusste, in die Hütte am Fluss bringt und dann an einem Schlangenbiss stirbt. Jetzt erst erfährt der alte Siddhartha durch den jungen Siddhartha, dass sein Herz auch zur größten Liebe fähig ist. Und auch zu größtem Leid, denn der Kleine will nicht bei den zwei alten Bananenessern bleiben und flieht in die Stadt zurück. Im Fluss sieht Siddhartha sodann das Bild seines eigenen Vaters, zu dem auch er nie wieder zurückgekehrt war. Er erkennt den Kreislauf des Lebens und kann nun auch den eigenen Sohn unter großen Schmerzen loslassen. Zugleich spürt er dabei seinen unzerstörbaren Kern. Und auch die Sehnsüchte und Leidenschaften der Menschen kann er nun verstehen, und dass sie dafür manchmal komische, manchmal wundervolle und manchmal schreckliche Dinge tun.

Die Welt ist vollkommen, trotz allem, denn alles kann sich ständig ändern, in allem ist alles angelegt. Ein Stein etwa ist ein Stein und gleichzeitig trägt er einen ganzen Kosmos an anderen Möglichkeiten in sich. Das ist es, was ihn schon heute anbetungswürdig macht, wo er doch gerade nur ein Stein ist. Und so liebt Siddhartha jetzt auch Steine, und nicht mehr Gedanken, Worte oder gar Meinungen und Gewissheiten.

Und da Wissen nicht Weisheit ist und Worte alles immer ein wenig verfälschen, schaut im Schlussbild der weise gewordene Siddhartha zusammen mit Govinda, der ihn wiedergefunden hat, im Fluss die Einheit hinter allen Gegensätzen. Der treue Jünger Buddhas, der ihn immer am meisten geliebt hat, berührt dabei Siddharthas erleuchtete Stirn mit einem Kuss. Liebe und Weisheit verschmelzen und auch Govinda, der ewig Suchende, kann für einen Augenblick Frieden finden und die Heiligkeit des Lebens spüren.

Die Liebe, Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein. Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können. Siddhartha

SIDDHARTHA - Lesestoff

DIE VERWANDLUNG von FRANZ KAFKA

Cornelia Metschitzer, 23.02.2023

Kafkas Werke unterscheiden sich fundamental von jeder anderen Literatur. Sie bewegen sich zwischen Realität und Traum, sind verstörend, rätselhaft, abgründig und voll Faszination für zerrissene Seelen, die plötzlich in unwirklich erscheinende Situationen gesetzt werden, aus denen sie nicht mehr herauskönnen. Das Abnorme erscheint dabei normal und das Normale abnorm.

 

Die Ungereimtheiten der Werke Kafkas betonen die Ungereimtheiten von Kafka selbst und auch die der Welt und so kann man von Kafka auch keine Kommentare oder Erklärungen erwarten. Auch bei seiner Erzählung DIE VERWANDLUNG ist das nicht anders.

 

KAFKA IM SCHEINWERFERLICHT

Aber am Theater kann man sich Kafka anverwandeln, sich für gewisse Lesarten entscheiden und diese dann dem Publikum vor- und zur Diskussion stellen. Das möchten wir hiermit gerne tun und machen nun also unseren ersten Kafka, der als Figur schon in unseren Milena-Stücken umgegangen ist.

Jetzt aber widmen wir uns in unserem Theater, das sich auch gerade verwandelt, erstmals einem seiner Werke, seiner Erzählung DIE VERWANDLUNG. Als „kleine Geschichte“ hat sie sein stets an sich selbst zweifelnder Schöpfer bezeichnet, nichts ahnend, dass er da gegen Ende des Jahres 1912 in der elterlichen Wohnung in Prag, in seinem kleinen Durchgangszimmer, einen Meilenstein der Weltliteratur herausgeklopft hat.

 

Die Faszination Kafka geht also nicht am Theater vorbei, auch wenn er keine Stücke geschrieben hat, sondern Erzählungen, Romane, Aphorismen, auch Briefe und Tagebücher. Dieses Kafkasche Werk ist schmal und fragmentarisch, dafür aber umso tiefgründiger, da es die inneren Widersprüche, Konflikte und Abgründe des Menschen auf schmerzhafte Weise offenlegt.

 

VERFLECHTUNG VON LEBEN UND WERK

Das Unglück, das Kafkas Figuren widerfährt, kommt nicht nur von außen, sondern auch aus dem eigenen Inneren. Das hat natürlich auch ganz viel mit Kafka selbst zu tun. Um zu zeigen, wie sehr Kafkas eigene dunkle Welt immer wieder in seinen Werken aufleuchtet, haben wir den sorgfältig gekürzten und nur mit wenigen dramaturgischen Eingriffen versehenen Originaltext der VERWANDLUNG in eine biografische Rahmenhandlung bzw. Grundsituation gebettet. Damit lassen sich Blitzlichter darauf werfen, wie seine Erzählung entstand, was ihr Auslöser war und welche Erfahrungen und Bedrängnisse Kafka sich dabei von seiner eigenen Seele geschrieben hat. Um eine Ahnung davon zu geben, wie sehr Kafka für sein Werk aus seiner eigenen zerrissenen Persönlichkeit, seiner äußeren und inneren Erfahrungswelt schöpfte, haben wir in DIE VERWANDLUNG teils leicht bearbeitete Originalzitate v. a. aus seinen Briefen eingearbeitet.

 

Kafkas Literatur ist geradezu durchdrungen von seiner ganzen Persönlichkeit. Für Kafka war das Schreiben sein eigentliches Leben. Im Akt des Schreibens, ob literarisch oder privat, konnte er immer wieder seine Weltangst, seine vielen Selbstzweifel und Zwänge, auch seine Komplexe vorübergehend beruhigen. Sein Schreiben war ihm daher eine Notwendigkeit, um auf dieser „fürchterlichen Welt“ als Mensch zu bestehen. In der Literatur hat er sein alleiniges Schlacht- und Spielfeld gefunden und seine Werke sind auch deshalb bis heute so gültig, da er trotz detailreicher Schilderungen kein überflüssiges Wort verliert. Vielmehr schafft er groteske Sinnbilder oder Parabeln, die die Widersprüche des Lebens in sich bergen, ohne von ihm erklärt, kommentiert oder gar moralisch bewertet zu werden.

 

UNSERE INSZENIERUNG

Das Bild vom ungeheuren Ungeziefer ist ein großes Sinnbild. In Gregor hat Kafka auch seine eigenen metaphysischen Seelenanteile hineingelegt und seine ganze Liebe zur Kreatur. Man merkt, wie er für Gregor empfindet und sich mit dessen tiefer Gespaltenheit identifiziert. Hat er sie ihm doch zugeschrieben, um sie aus sich selbst herauszuwerfen, sie vor sich zu sehen. Und genau das ist die Grundsituation auch unserer Inszenierung, wenn wir nun Kafka beim Schreiben und Entfalten seiner Erzählung DIE VERWANDLUNG zuschauen dürfen. Wir erleben, wie er sich in Gregor verwandelt, sich ihn zueignet und vorstellt, mit ihm kommuniziert und immer wieder mit ihm verschmilzt. Dabei kommt es wegen Gregors innerer Zerrissenheit auch immer wieder zu grotesken Situationen, die wir auch in unserer Inszenierung herausarbeiten.

 

Da alles, was wir auf der Bühne sehen und hören, aus Gregor selbst kommt bzw. aus seinem Schöpfer Franz Kafka, habe ich als Regisseurin eine künstlerische Form finden wollen, die dieser Perspektive entspricht. Und so gibt es bei uns nicht verschiedene Schauspieler*innen in verschiedenen Rollen, sondern genau einen Schauspieler, der in die Rolle von Franz Kafka schlüpft, um alles aus sich selbst herauszuwerfen, die Texte, die Bilder. Gregor selbst ist nicht als Insekt sichtbar, aber alle weiteren Figuren (Eltern, Schwester, Bedienerin, Prokurist, Zimmerherren) werden über projizierte Zeichnungen von Jaafay Akbari auf der Bühnenrückwand visualisiert und ihre Stimmen kommen vom Band. Manchmal schlüpft Rudi Müllehner als Kafka auch in diese Figuren hinein, um sie auszuprobieren, live in Szene zu setzen.

 

Weite Teile der Erzählung kommen über Toneinspielungen (Technik: Lisa Ryzy, Michael Kment) auf die Bühne, die wir zuvor aufgenommen haben und nun über stumme Szenen, Bild-Illustrationen und Handlungsverläufe legen. Auf diesen Aufnahmen ist ebenfalls Rudi Müllehners alleinige Stimme zu hören und wie er sie auf die verschiedenen Figuren verteilt, die Kafka gerade ersinnt, beschreibt und im Spiel entfaltet.

 

Allein in seinem Zimmer, schreibend und spielend, schaut Kafka auch bei uns auf der Bühne hinter die vordergründige Welt, ohne sich zu sehr mit ihr praktisch anlegen zu müssen. Aber es eröffnet sich aus dem Sichtfeld Gregors und aus dessen seelischen Abgründen auch seine Sicht auf die Welt.

 

ENTSTEHUNGSGESCHICHTE

Kafka schrieb DIE VERWANDLUNG binnen drei Wochen in seinem kleinen Zimmer in der elterlichen Wohnung in Prag nieder. Die Wohnung der Samsas ist der Wohnung der Kafkas nachempfunden. Ausgangspunkt unseres Stücks ist der 17. November 1912, als Kafka mit der Niederschrift begann. Er wanderte an diesem trüben Sonntag unruhig in seinem Zimmer auf und ab, da er schon drei Tage lang vergeblich auf einen Brief aus Berlin wartete. Von seiner späteren Verlobten Felice Bauer, die er kurz davor in Prag durch Max Brod kennengelernt hatte. Erst als er den ersehnten Brief dann doch noch an diesem Sonntag bekam, war er beruhigt und konnte seine Erzählung beginnen. Am 7. Dezember beendete Kafka dann seine „kleine Geschichte“, die ihm aber ekelhaft vorkam und mit der er nicht recht zufrieden war, wie wir aus seinen Briefen an Felice erfahren. Trotzdem sollte DIE VERWANDLUNG zu einer der größten Erzählungen der Moderne werden.

 

Was liegt nun in diesem Werk, das die Welt bis heute fasziniert und bewegt? Auch davon möchten wir in unserer Inszenierung eine Ahnung geben und hinter der großen gesellschaftlichen Relevanz der Verwandlung auch ihre universelle Dimension spürbar machen.

 

DIE MENSCHLICHE WELT – EIN DILEMMA

Denn in dieser „kleinen Geschichte“ schaut Kafka weit hinter die sichtbare Welt der Familie Samsa, sucht ihr Dilemma, sucht die Schuld und kann sie nicht festmachen, vergrößert die Familientragödie in eine gesellschaftliche und dann in eine der ganzen Welt. Dabei nennt er keine Namen, die für eine Schuld einstehen könnten. Wenn man die Schuldigen aber nicht findet, steckt die Schuld womöglich in einem selber? Wie und wie sehr macht man sich als Mensch mitschuldig an der Welt? Man will, kann es vielleicht auch nicht wissen.  

 

Kafka zeigt uns an Gregors Zerrissenheit die große Angst vor der Schuld. Denn er hat Gregor nicht gänzlich verwandelt, sondern dessen menschliche Seele in den Körper eines Ungeziefers gesperrt. Innerlich also noch Mensch, mit einem denkenden und fühlenden Bewusstsein, gibt es vor der Schuld der Zweibeiner kein Entkommen. Hierfür hätte sich Gregor vollständig verwandeln müssen.

 

DIE SCHULD DER ZWEIBEINER

Und so ist DIE VERWANDLUNG auch eine große Erzählung über die Macht von denen, die aufrecht stehen, von den Menschen. Das Bittere ist, dass die Geschichte von Gregor Samsa und seiner Familie ihren natürlichen Lauf nehmen muss. Denn die Mühle, die in der Moderne die Seelen zermalmt, ist unerbittlich. Ihr Mechanismus läuft und zermalmt das Subjekt. Es gibt keinen Schalter, ihn an- oder abzustellen. Jeder Griff nach dem Schalter bedeutet Macht. Und diese Macht steht den Menschen nicht zu. Wenn man sich aber in ein Tier verwandelt, sich klein macht, weil die immer mögliche Schuld der Zweibeiner beängstigend ist, wird man vom menschlichen Kreis ausgeschlossen, wird fremd und nicht mehr verstanden. An der Tragödie der Familie Samsa zeigen sich auch die menschlichen Mechanismen, die die Welt an den Abgrund führen, allen voran Verdrängung und Selbstbetrug, die vielen Abhängigkeiten im modernen Überlebenskampf, das gegenseitige Missverstehen und die Angst vor dem Fremden. Kafka ist auch deshalb bis heute so gültig, da er radikal an die Wurzel geht, ohne nur Symptome zu behandeln oder das Schema von Gut und Böse zu strapazieren. Das macht seine Texte auch so schmerzhaft, da sie verborgene Wahrheiten enthalten, die man gern von sich wegschiebt, aber gerade durch die Kunst offenlegen und vielleicht dann auch besser nehmen kann.

 

DAS VERDRÄNGTE UNBEWUSSTE

Kafka vermeidet es in seiner Kunst des Schreibens, eine Botschaft zu hinterlassen. Kein Interpretieren oder gar Moralisieren, nur ein minutiöses Schildern von Ereignissen und Empfindungen, in denen sich auch das verborgene Unbewusste gebührend Platz schafft. Auch in der Verwandlung wird das Psychische projiziert und das Subjektive verbildlicht. Und so ist dieses Werk ein einziger bildhafter Ausdruck von Gregor Samsas innerer Situation und gleichzeitig ein bewegendes Zeugnis von Kafkas geistiger Auseinandersetzung mit der „fürchterlichen Welt“.

 

Hoffnung kommt bei Kafka wirklich selten auf, doch durch seine Metaphysik lässt er den Fatalismus wenig zu. Man sieht Kafkas Figuren leben und leiden, ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, ihre auch im Unmenschlichen klägliche menschliche Gestalt. Der Zweibeiner müsste sich wirklich vor sich selbst fürchten oder zumindest sehr in Frage stellen. Und das hat ein Gewicht bis in unsere heutige Zeit.

 

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt…

 

DER BEGINN DER ERZÄHLUNG

Ein braver und tüchtiger Sohn, der als Handlungsreisender die Schulden seines Vaters abstottert, hat sich also über Nacht in ein riesiges Insekt verwandelt. Doch Gregor ist weder erstaunt, noch beunruhigt, sondern will zunächst einmal Ruhe bewahren. Und vielleicht ist das Ganze ja nur ein Traum, denn der Wecker dürfte auch noch nicht geläutet haben. Da klopfen sie aber schon alle an seine Tür, die Mutter, die jüngere Schwester und der Vater. Sogar die Stiefel des Prokuristen hört er im Vorzimmer knarren, muss dieser doch höchstpersönlich nachschauen kommen, warum sein Untergebener nicht zum Dienst erschienen war. Gregor lässt sich sogleich eine Ausrede einfallen, die Tierstimme jedoch, die nun aus seinem Körper dringt, versetzt die Mutter und Schwester in größte Besorgnis. Sie wollen sofort, dass ein Arzt kommt, der ungeduldige Vater aber verlangt nach dem Schlosser, denn Gregor hält wie auf Reisen auch zu Hause sein Zimmer penibel versperrt. Aufgescheucht von der Drohung des Prokuristen, dass seine Stellung nicht die sicherste sei, mit der er aber die gesamte Familie ernährt, schleppt sich Gregor daraufhin zur Tür. Er wirft sich auf das Schloss und beginnt den Schlüssel mit seinem Kiefer zu drehen. Dabei ist er gespannt, was die anderen bei seinem Anblick sagen würden. Denn würden sie erschrecken, dann hätte Gregor keine Verantwortung mehr, würden sie aber alles ruhig hinnehmen, dann hätte auch er keinen Grund, sich aufzuregen und alles wäre in Ordnung.

 

Nichts aber wird mehr sein wie früher in Gregors Leben und auch nicht in dem seiner Familie. Gregor hat zwar den Arzt oder den Schlosser nicht gebraucht, doch fortan wird der Schlüssel seines Zimmers nur noch von außen stecken. 

 

ZUM INNEREN UND ÄUSSEREN HANDLUNGSGESCHEHEN

Mit quälender Nüchternheit und erleichternder Ironie hat Kafka hier das Scheitern eines Befreiungsversuches minutiös abgehandelt und dabei tief in die seelischen Abgründe der Familie Samsa geschaut. Das groteske Bild, das er sich ausmalt, ist das eines Insekts, aber mit der Seele eines Menschen. Wie es sich anfühlt, mit menschlichen Gefühlen im Panzer eines Ungeziefers zu stecken, schildert Kafka grausam, aber mit Empathie. Die absurde Situation, in die er Gregor setzt, und aus der dieser nicht mehr herauskommt, ist auch Kafkas eigene und letztlich die der Welt.

 

Die verdrängten Wahrheiten, die Kafka ans Licht bringt, indem er Gregors Unbewusstes vom nächtlichen Traum ans Tageslicht zerrt, sind schmerzhaft. Denn Gregor träumt sich durch seine Panzerung zwar aus den Lasten und Pflichten seines alten Lebens hinaus, sein Protest ist aber genauso halb wie seine Verwandlung. Denn am Tag, wo ihm sein Bewusstsein im Weg steht, kriegt Gregor sogleich ein schlechtes Gewissen. Will er doch weiterhin ein braver Sohn und Bruder sein, gleichzeitig aber auch das Riesenjoch abwerfen, sich für seine Familie aufzuopfern und dabei ständig die eigenen Bedürfnisse hintanstellen zu müssen. 

 

Dieser innere Konflikt, sein großer Zwiespalt, wird Gregor nun zum Verhängnis. Er kämpft letztlich mit sich selbst und nicht nach außen. Das ist auch schwer möglich, denn die Familie wendet sich sogleich erschrocken von ihm ab und sperrt ihn weg. Auch, da er ihr in seiner nunmehrigen Ungestalt ständig vor Augen führen müsste, was sie aus ihm gemacht hat. Indem sie ihn ungewollt, aber weil es bequem war, dazu getrieben hat, sich in einen Insektenkörper zu sperren, um nicht mehr für sie funktionieren zu müssen. Aber solche Wahrheiten will man nicht hören und sehen. Ein uneingestandenes Dilemma auch der ganzen Welt, sich mitschuldig zu machen, ohne es zu wollen.

 

Aber auch Gregor steckt im Dilemma fest, in seinem Insektenkörper, den er nun nicht mehr abschütteln kann. Kafka hat ihn jedoch nicht in ein nützliches Insekt verwandelt, sondern in ein hässliches, unnützes, ja schädliches Ungeziefer. Da er damit nicht mehr herumschwirren kann, um Eltern und Schwester zu ernähren, diese sich vielmehr nun selbst abstrampeln müssen, um ihren Lebensstandard halten zu können, will er ihnen nicht noch mehr schaden. Und so beschließt Gregor nun, größtmögliche Rücksicht auf sie zu nehmen. Die Familie aber versteht seine Rücksichtnahme nicht. Sein Unglück ist nicht nur, dass in seinem Tierkörper eine zerrissene Menschenseele haust, sondern dass diese, so sehr sie zunächst bittet und dann zürnt, nicht mehr gesehen wird. Er ist seiner Familie nämlich so fremd geworden, dass er nicht mehr dazugehört. Und da man auch nicht mehr mit ihm redet, wie soll er da verstanden werden? Alle seine verzweifelten Versuche, sich seiner Familie anzunähern, scheitern an seiner Ungestalt und dass man ihm sein gutes Wollen als böses auslegt.

 

Kafka wäre aber nicht Kafka, wenn er den Keim dieses fatalen Missverständnisses nicht in Gregor selbst eingepflanzt hätte. Nämlich auch als dessen unverschuldete Schuld. Und so muss man sich nicht nur vor der eigenen Zweibeinigkeit fürchten, mit der man sich als Mensch so gerne über andere Erdbewohner erhebt, sondern auch vor den eigenen innerseelischen Kämpfen und verdrängten Abgründen.

 

Mit seinem unausgegorenen Protest verheddert sich Gregor also immer mehr in seine sowohl fremdbestimmte als auch selbstgemachte Tragödie. Das nächste Dilemma ist nämlich, dass die Familie nun auch immer weniger Zeit hat, ihn anständig zu versorgen. Und so wird er immer mehr sich selbst überlassen und verwahrlost einsam und unglücklich in seinem Zimmer, das nicht nur ein Stall geworden ist, sondern auch eine Rumpelkammer.

Gregor beginnt immer ungehaltener zu werden und seine innere Wut beginnt sich zu stauen. Als seine Tür zum Wohnzimmer einmal unbeabsichtigt offen steht, so sehr hat man den einstigen Sohn schon verdrängt, reißt er dorthin aus, um sich dem Violinspiel seiner Schwester hinzugeben und sie zu bitten, ihr den Hals küssen zu dürfen und mit ihm fortan in seiner Höhle zu hausen.

Die Rache der Schwester aber ist fürchterlich. Sie eröffnet über Gregor das Familientribunal und man fragt sich, was sie letztlich dazu veranlasst, über ihren einst so geliebten Bruder das Todesurteil zu sprechen.

 

Hatte sie im verwandelten Gregor nicht mehr den Bruder sehen wollen und warum? Vielleicht ist ihr Schmerz zu groß, Gregor in seiner Menschengestalt verloren zu haben, vielleicht hat sie sich zu sehr darüber erschrocken, dass er sie in seine stinkende Höhle ziehen wollte, nachdem sie den Geruch eines neuen und aktiveren Lebens geatmet hatte. Vielleicht aber ist es für ein siebzehnjähriges Mädchen einfach auch nur eine fürchterliche Vorstellung, von einem fremden Biest vereinnahmt zu werden.

 

Aber Gregor will gar niemandem Angst einjagen. Tatsächlich ist er seiner Familie aber immer fremder geworden. So fremd, dass er es nicht mehr erträgt, dass sie ihn so missversteht. Und so legt er sich nach den harten Worten der Schwester zum Sterben nieder. Ausgehungert und schwach, da man ihm schon zuvor das wichtigste aller Lebensmittel entzogen hatte, jene unbekannte Nahrung, die eine Nahrung allein für die Seele ist, die man unter seinem Panzer aber nicht mehr sah.

 

Auch die Selbstbehauptung kann also etwas Gefahrvolles haben. Es ist schwierig, sie durchzusetzen, ohne dass das eigene Ich oder ein anderes Schaden dabei nimmt. Das ist der Teufelskreis, den Kafka auch in der Verwandlung zeigt.

 

Gregors vollständiger Rückzug ist eine Erlösung. Aber er erlöst damit nicht nur sich selbst, sondern v.a. auch die Schwester und die Eltern aus einer auch für sie unerträglich gewordenen Situation. Nachdem er sein Leben aushaucht, wird er von der Bedienerin unwürdig entsorgt. Grete und die Eltern aber werden in ein neues Leben gehen, ohne sich dabei von ihren Scheinwahrheiten befreien zu müssen. Gregor jedoch, der ewige Zweifler und ein Gefangener seiner Widersprüche und Zerrissenheit, ist einer der verlorenen Helden Kafkas geworden.

DIE VERWANDLUNG von Franz Kafka
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