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EMPFINDEN UND ERKENNTNIS

Gedanken und Entwicklungen vor unserem 10. Geburtstag, Cornelia Metschitzer, 27. März 2023

Das Empfinden und die Erkenntnis sind uns abhandengekommen.

Vielleicht ist das schon die Verdammung.

Franz Kafka

Empfinden und Erkenntnis lassen sich auch durch die Kunst immer wieder neu aktivieren. Im gemeinsamen Augenblick und im Nachwirken eines Kunsterlebnisses. Schön, dass jetzt wieder mehr Menschen in die Theater kommen, um sich diese kostbaren Momente zu holen und auch reichlich Stoff für Gedanken.

 

Ganz in diesem Sinne haben wir für April, Mai und Juni wieder ein buntes Programm aus vielen Sparten zusammengestellt. Mit achtzehn verschiedenen Veranstaltungen an über 45 Spielterminen. Denn auch unsere Theatervormittage für Schulklassen sind nun wieder auf Schiene und werden sehr gerne gebucht.

 

10. GEBURTSTAG

Am 2. Oktober 2023 wird die Tribüne Linz 10 Jahre alt. Eine Jubiläumsspielzeit steht uns also ins Haus und wir werden unseren Reformweg weitergehen. Als Spielstätte, wo viele verschiedene Genres Platz finden und wo auch die jungen Menschen für das Theater begeistert werden sollen.

 

RELEVANTE STOFFE & NEUE FORMEN

Seit Anbeginn haben wir die Tribüne Linz gemeinsam mit unserem Publikum entwickelt. Vieles hat sich im unmittelbaren Tun ergeben und wir haben immer auf die Bedürfnisse des Publikums, speziell was unsere Schulschiene betrifft, reagiert. In unserem eigenen Abendprogramm bearbeiten wir Themen und Stoffe, die uns relevant erscheinen und können so unmittelbar auf die Gegenwart Bezug nehmen. Auch mit den Klassikern, die am Theater immer zeitgemäß verhandelt werden können. Dabei haben wir einen charakteristischen Stil entwickelt, der offen genug ist, dass er sich immer wieder neu transformieren lässt. In immer neue Ausdrucksformen. Die nun bessere technische Ausstattung unseres Theaters erlaubt hier mehr Experimente, sodass auch verstärkt Werke der Literatur, die nicht eigens für das Theater geschrieben wurden, gezeigt werden können. Damit können wir weiterhin große und dichte Stoffe auf unsere kleine Bühne holen und den Cross-Over-Gedanken leben.

Die stetig anwachsende Gastspielschiene in unserem Haus trägt das ihrige dazu bei, Vielfalt in unserem Theater hochleben zu lassen. Und so begrüßen wir nun verstärkt viele neue Künste auf unserer Theaterbühne, Musik, aber auch Literatur, Performance und verschiedene weitere Spielarten der Live-Kunst.

 

BERECHTIGTE HOFFNUNG

Insgesamt ist nun im Kunst- und Kulturbetrieb wieder eine erfreulichere Entwicklung spürbar, nachdem die letzten Jahre geprägt waren von Schließungen, Absagen und der Anstrengung, den Kontakt zum Publikum nicht zu verlieren. Doch nun gibt es wieder berechtigte Hoffnung, dass der Live-Betrieb neu durchstarten kann. Ja, ein Neustart soll es bei uns sein, auch wenn wir manches nicht aufgeben wollen, etwa unsere Drei-Schienen-Struktur (Schulschiene, eigene Abendschiene, Gastspielschiene) sowie unseren Repertoire-Spielplan, der unserem Publikum viel Abwechslung bietet. 

 

NEUSTART

Dieser Neustart kann aber nur im Einklang mit unseren finanziellen Möglichkeiten und mit sozialen Reformen, wie etwas Fair-Pay, einhergehen. Das ist die größte Lehre, die wir aus der Pandemie gezogen haben. Und so werden wir nicht mehr so viel selbst produzieren, denn dafür haben wir kein finanzielles Fundament, hatten es nie, sondern bauten auf unseren Idealismus. Nun, wo auch wir älter, nachdenklicher und auch weniger belastbar geworden sind, verfolgen wir einen gangbareren Weg und teilen unser Theater noch mehr als zuvor mit anderen Künstlerinnen und Künstlern. Und so bereichern nun viele weitere Kräfte der freien Szene unser Haus und gestalten unser Programm auf vielfältige Weise mit. Das Cross-Over der Kulturen und der Stile ist uns dabei wichtig. Und dass auch junge Menschen sich austoben können bzw. Angebote finden, die Live-Kultur zu feiern. Auch, dass die „Alten“ neue Seelenräume finden. Weg von der Massenabfertigung, wieder mehr hin zu Authentizität und purer Spielfreude im intimeren Rahmen.

 

MEHR AUFTRITTSMÖGLICHKEITEN FÜR DIE FREIEN

Auch abseits der Marken und Moden finden viele künstlerische Prozesse statt. Besonders in Krisenzeiten wie diesen. Um ihre Kunst auch mit anderen Menschen teilen zu können, brauchen freie Künstler*innen aber mehr Auftrittsmöglichkeiten. Egal, ob man allein schöpferisch tätig ist oder mit anderen Kolleg*innen Ensembles oder Formationen bildet, immer möchte man das, was dabei entsteht, einem Publikum zeigen. Diesen Menschen wollen wir nun verstärkt unsere Bühne öffnen, denn es gibt immer viel Neues zu entdecken, viele neue Schätze zu heben. Warum müssen es immer nur die bereits etablierten Schatzis sein? Warum wird auch in der Kunst immer noch so viel etikettiert? Wenn Kunst pulsieren will, am Puls der Zeit sein will, dann muss vieles gleichzeitig pulsieren dürfen. Die eigene Kunst mit anderen Menschen teilen zu dürfen, dieses Privileg haben wir nun schon viele Jahre. Aber es sollte kein Privileg sein, sondern eine Selbstverständlichkeit. Der Veranstaltungsbetrieb könnte sich ruhig mehr trauen und dem Publikum mehr Angebote auch abseits des Mainstreams machen. Denn das Publikum will sich auch überraschen lassen, auf Neues einlassen. Der Wert der Kunst ist nicht nur in Zahlen zu messen. Aber es liegt v.a. an der Kulturpolitik, Vielfalt und auch die junge Kunst, die sich erst etablieren will, bestmöglich zu unterstützen.

 

SYSTEMATISCHE STRUKTURELLE REFORMEN NÖTIG

Auch unsere Branche wurde von der Politik nicht im Stich gelassen zu Corona. Nun heißt es, die Weichen neu zu stellen, um das, was gerettet werden konnte, auf feste Beine zu stellen. Das heißt aber auch, fairer zu fördern und bessere Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. In allen Bereichen des Lebens, ob bei Gesundheit, Bildung, Umweltschutz etc., wäre es nun wichtig, sich die alten Fehler einzugestehen und sie nicht wieder neu zu begehen. Denn dass die Systeme nicht hielten, ist v.a. den jahrelangen Fehlentwicklungen, dem Sozialabbau und den Ausbeutungs- und Abhängigkeitsstrukturen geschuldet. Corona hat diese negativen Entwicklungen schmerzhaft vor Augen geführt und noch weiter verstärkt. Und wie in allen wichtigen Bereichen des Lebens muss nun auch in der Kunst und Kultur vieles verbessert werden. Denn es ist auch bei uns einiges zerbrochen. Aber der Zusammenhalt unter den Künstler*innen ist stärker geworden. Nun heißt es, gemeinsam vieles wieder zusammenzufügen zu einem neuen Ganzen. Von Bund und Land gibt es bereits die ersten grünen Lichter für Fair-Pay und Ökologisierung. Auch die Verbesserungen unserer Publikumsinfrastruktur sowie unserer Veranstaltungstechnik wurden aus Extra-Töpfen von Bund und Land mitermöglicht. Nun haben wir ideale Voraussetzungen für einen Multi-Veranstaltungsbetrieb.

 

ES BLEIBT AUCH FÜR UNS SPANNEND

Wir können jetzt mehr Neues stattfinden lassen und intensivieren auch unsere Zusammenarbeit mit jenen Kräften, die schon länger bei uns spielen und sich in der Tribüne Linz bereits ein treues Publikum aufgebaut haben. Mit dem engagierten Kulturverein Etty von Bettina Buchholz und Johannes Neuhauser z.B., oder mit Marcus Doneus, der regelmäßig internationale Gitarrenkonzerte zu uns bringt. Auch möchten wir dem ebenfalls ambitionierten Literaturschiff rund um Christian Gsöllradl-Samhaber einen Ankerplatz bieten. Denn mit allen vereint uns ein gemeinsames Anliegen: inhaltliche Relevanz und Stilpluralismus zu leben. Aber auch unterschiedlichste Gastspiele anderer Gruppen, Duos oder Solo-Künstler*innen bereichern immer mehr unser Haus. Und es bleibt damit auch für uns stets spannend und überraschend, was auf unserer Bühne geschieht.

 

WIRKUNG DUCH KOMMUNIKATION

Neues entstehen lassen, im Tun, ohne zu große vorgefertigte Konzepte, den Augenblick zulassen und sehen, wohin er uns führt. Die Live-Kultur lebt von diesen Momenten, die direkt mit dem Publikum geteilt werden. Wenn wir das Publikum berühren können mit unserer Kunst, dann können wir es auch mitnehmen. Aber nicht das steril Verpackte, das Etikettierte, das Bekannte, das Überangebot wollen wir anbieten, sondern unmittelbar schöpfen aus vielen Töpfen der Kunst. Eine feine Mischung im Kleinen, wo der persönliche Kontakt großgeschrieben wird. Das war schon immer unser Weg und nun gehen wir ihn nur etwas anders weiter. Denn Kunst ist vor allem Kommunikation und Live-Kunst immer ein direkter zwischenmenschlicher Austausch. Die Sprachen der Kunst folgen dabei keinen Regeln und Normen. Und das ist gut. Denn das macht aus Kunst nicht so leicht eine konsumierbare Ware.

Wenn wir an einer lebbareren, gerechteren und bewussteren Welt mitbauen wollen, und das versuchen wir im Rahmen unserer künstlerischen Möglichkeiten, dann müssen wir Wirkung erzeugen. Denn nur aus dem Inneren heraus lässt sich etwas fundamental verändern. Man muss sich vorher etwas vorstellen können und eine Empfindung dazu haben, um es dann Gestalt werden zu lassen.

 

MIT LEIDENSCHAFT, ABER VERTRÄGLICH

Natürlich ist man auch in der Kunst den äußeren Gegebenheiten und Zwängen unterworfen. Aber solange unser Pachtvertrag verlängert wird und die Kulturpolitik unsere Arbeit wertschätzt werden wir weiterhin mit Leidenschaft die Tribüne Linz betreiben. Aber in einem lebbareren und verträglicheren Ausmaß als in der alten Zeit. Gerade wenn man auf der Bühne mit Gedanken und Gefühlen Handel treibt, sollte man sein ideelles Ansinnen auch selbst würdig vertreten. Kritische Selbstanalyse und soziale Reformen sind auch bei uns unabdingbar geworden und so gehen wir nicht mehr in die alten Strukturen zurück. Es ist uns dabei wichtig, zu sagen, dass wir dies nicht als Einschränkung empfinden. Im Gegenteil, das gibt unserer Arbeit jetzt auch die nötige Zeit, die sie braucht für Wahrnehmung, Verinnerlichung, Entfaltung. 

 

EMPFINDEN & ERKENNTNIS

Das Ungewisse unserer Zeit spiegelt sich auch notwendigerweise in der Kunst. Wirkliche Künstlerinnen und Künstler werden nie die ausgetretenen und sicheren Wege gehen, sondern stoßen immer ins Ungewisse vor. Man kann dabei auch vieles aufnehmen, aufheben, mitnehmen, was liegengelassen wurde, was unscheinbar erscheint, einfach alles, was man findet und wo man denkt, dass es helfen kann, die Augen sehend zu machen. Nicht nur für das Äußere, sondern im Sinne Ingeborg Bachmanns oder Franz Kafkas auch für das Innere, das Verborgene. Wofür man nicht bloß Augen braucht, sondern auch sensible Sensoren, ein Gespür. Diese Empfindungen, deren Abhandenkommen schon Franz Kafka wahrnahm, möchten wir stimulieren. Damit Erkenntnisse wieder möglich werden. Und Kunst kann das ganz besonders. Ohne einen alleinigen Wahrheitsanspruch zu behaupten. Das ist das Beste, was wir von Kafka lernen können, der demnächst viel im Scheinwerferlicht stehen wird, wenn die Welt seinen einhundertsten Todestag begeht. Und da sein Leben und Werk auf das Innigste verflochten sind, werden wir Kafkas überaus empfindliche Sensoren hoffentlich für viele neue Erkenntnisse auch für unsere heutige Zeit nützen können. Denn das Parabelhafte seiner Erzählkunst geht vom Subjektiven immer ins Allgemeine, ja Universelle. Und er lebte in der Zeit der Moderne, wo viele Gefahren, Umwälzungen und Paradoxien eine permanent flirrende Stimmung von Angst und Unsicherheit erzeugten, ähnlich unserem Heute.

 

KAFKAS GROSSE RELEVANZ FÜR HEUTE

Mit Franz Kafkas DIE VERWANDLUNG möchten wir, wie auch die Presse sagte, „im Geiste Kafkas“ ein „Türöffner“ sein für sein zutiefst relevantes Werk. Aber auch die so hellsichtige dunkle Dichterseele dahinter sichtbar machen, die gegenwärtig auch bei der jungen Generation auf so große Resonanz stößt. Einfach, weil Kafka auch unseren Nerv der Zeit extrem trifft. Und so haben wir seine berühmte Erzählung in ihre Entstehungssituation gebettet und lassen Kafka nun vor den Augen des Publikums seine Geschichte entfalten. Dabei kann mit unserer universellen Interpretation dieses Werks spürbar gemacht werden, wie sehr die Spezies Mensch mit der Bürde ihres Menschseins ringt und dass es an ihr - also an uns allen - liegt, ob die Welt noch zu retten ist oder nicht.

 

EINE GROSSE PARABEL

Um nichts weniger geht es in dieser großen Parabel als um unsere Verantwortung als Mensch in der Welt und die Last, sie zu tragen. Der Wunsch, aus den alten Mustern auszubrechen, um sich aus Abhängigkeit und Ausbeutung zu befreien, geht bei Gregor aber nach hinten los. Denn er vertritt ihn nicht vehement genug. Das ist sein Dilemma und das Dilemma der Welt, die Probleme nicht an der Wurzel zu packen, sondern die Bequemlichkeit vorzuziehen und den Schein um jeden Preis aufrechtzuerhalten, der heute aber nicht mehr so schön daherkommen will.

 

EIN TRAGISCHES SINNBILD

Da er als Ungeziefer wahrgenommen wird und nicht mehr verstanden, wird Gregor Samsa von seiner Familie zutiefst verkannt. Die Tragödie ist, dass Kafka Gregors fühlendes und denkendes menschliches Ich in einen garstigen Insektenkörper gesperrt hat. Gregors Verwandlung und Rebellion sind deshalb nur halb. Am Schluss mag sich Gregor selbst nicht mehr und legt sich zum Sterben nieder. Seine unverschuldete Schuld hat ihn zerstört. Denn er hat vor lauter Gewissensbissen auch nichts mehr gegessen, ist schwach geworden und wir alle wissen, wie man mit den Schwachen und Nutzlosen verfährt. Ein zusammengesunkener Körper muss aufpassen, nicht zertreten zu werden von einem dynamischen Schritt. Auch wenn ein solcher oft niemanden zertreten will. Das ist das tragische Sinnbild der Welt. Und deshalb verwundert es nicht, dass Kafka, der viele Ängste hatte, sich nicht fürchtete vor dem Schwachsein. Eher vor dem Mitmarschieren im Totschlägertrupp. Und darum stellte er seine Füße nie ganz in diese Welt. Seine Welt war vielmehr die Literatur, das Schreiben. Nur hier konnte er leben. Hier vor allem vollzogen sich auch seine Gespräche mit anderen Menschen. Er stürzte sich in seinen Briefen auf Milena Jesenská, zuvor schon auf Felice Bauer. Und immer waren das auch Gespräche mit sich selbst, um trotz Zwangsgedanken, Schuldgefühlen und Selbstzweifel bestehen zu können. Seine großen inneren Widersprüche und Sehnsüchte hat Kafka auch in seine literarische Figur Gregor Samsa hineingelegt. Und sie ihn aber verdrängen lassen. Auch deshalb geht DIE VERWANDLUNG für Gregor schlecht aus. Nicht nur, weil die Angst vor dem Fremden ihn aus der menschlichen Gemeinschaft ausschloss.

 

WAS WIR LERNEN KÖNNEN

Was wir daraus lernen können? Die eigenen Widersprüche und Sehnsüchte anzuerkennen, mit Verdrängung und Selbstbetrug aufzuhören, die persönlichen Lebensweisen zu überdenken und den Traum von einem lebbareren Leben zu verwirklichen suchen. Aus einem inneren Bedürfnis heraus. Für uns selbst und den Rest der Welt. Nonkonformistisch, aber sozial, eigensinnig, aber im Sinne eines gerechteren Ganzen. Wo auch das Unsichtbare nicht weiter ausgeblendet wird. Und dazu ist Theater seit Hamlet fähig, tiefe Einblicke in die menschliche Seele zu geben, das Innerste sichtbar zu machen und Verständnis zu erzeugen über alle Unterschiede und Grenzen hinweg.

 

„Theater für Toleranz“ haben wir früher unsere freie Bühne04 genannt. Ein eigentlich naiver Name, denn es ginge doch darum, die anderen voll anzuerkennen und sie nicht bloß zu tolerieren. Heute aber sind wir in der Gesellschaft wieder dort gelandet, wo wir um ein wenig mehr Toleranz froh sein müssen.

Empfinden und Erkenntnis

DIE VERWANDLUNG von FRANZ KAFKA

Cornelia Metschitzer, 23.02.2023

Kafkas Werke unterscheiden sich fundamental von jeder anderen Literatur. Sie bewegen sich zwischen Realität und Traum, sind verstörend, rätselhaft, abgründig und voll Faszination für zerrissene Seelen, die plötzlich in unwirklich erscheinende Situationen gesetzt werden, aus denen sie nicht mehr herauskönnen. Das Abnorme erscheint dabei normal und das Normale abnorm.

 

Die Ungereimtheiten der Werke Kafkas betonen die Ungereimtheiten von Kafka selbst und auch die der Welt und so kann man von Kafka auch keine Kommentare oder Erklärungen erwarten. Auch bei seiner Erzählung DIE VERWANDLUNG ist das nicht anders.

 

KAFKA IM SCHEINWERFERLICHT

Aber am Theater kann man sich Kafka anverwandeln, sich für gewisse Lesarten entscheiden und diese dann dem Publikum vor- und zur Diskussion stellen. Das möchten wir hiermit gerne tun und machen nun also unseren ersten Kafka, der als Figur schon in unseren Milena-Stücken umgegangen ist.

Jetzt aber widmen wir uns in unserem Theater, das sich auch gerade verwandelt, erstmals einem seiner Werke, seiner Erzählung DIE VERWANDLUNG. Als „kleine Geschichte“ hat sie sein stets an sich selbst zweifelnder Schöpfer bezeichnet, nichts ahnend, dass er da gegen Ende des Jahres 1912 in der elterlichen Wohnung in Prag, in seinem kleinen Durchgangszimmer, einen Meilenstein der Weltliteratur herausgeklopft hat.

 

Die Faszination Kafka geht also nicht am Theater vorbei, auch wenn er keine Stücke geschrieben hat, sondern Erzählungen, Romane, Aphorismen, auch Briefe und Tagebücher. Dieses Kafkasche Werk ist schmal und fragmentarisch, dafür aber umso tiefgründiger, da es die inneren Widersprüche, Konflikte und Abgründe des Menschen auf schmerzhafte Weise offenlegt.

 

VERFLECHTUNG VON LEBEN UND WERK

Das Unglück, das Kafkas Figuren widerfährt, kommt nicht nur von außen, sondern auch aus dem eigenen Inneren. Das hat natürlich auch ganz viel mit Kafka selbst zu tun. Um zu zeigen, wie sehr Kafkas eigene dunkle Welt immer wieder in seinen Werken aufleuchtet, haben wir den sorgfältig gekürzten und nur mit wenigen dramaturgischen Eingriffen versehenen Originaltext der VERWANDLUNG in eine biografische Rahmenhandlung bzw. Grundsituation gebettet. Damit lassen sich Blitzlichter darauf werfen, wie seine Erzählung entstand, was ihr Auslöser war und welche Erfahrungen und Bedrängnisse Kafka sich dabei von seiner eigenen Seele geschrieben hat. Um eine Ahnung davon zu geben, wie sehr Kafka für sein Werk aus seiner eigenen zerrissenen Persönlichkeit, seiner äußeren und inneren Erfahrungswelt schöpfte, haben wir in DIE VERWANDLUNG teils leicht bearbeitete Originalzitate v. a. aus seinen Briefen eingearbeitet.

 

Kafkas Literatur ist geradezu durchdrungen von seiner ganzen Persönlichkeit. Für Kafka war das Schreiben sein eigentliches Leben. Im Akt des Schreibens, ob literarisch oder privat, konnte er immer wieder seine Weltangst, seine vielen Selbstzweifel und Zwänge, auch seine Komplexe vorübergehend beruhigen. Sein Schreiben war ihm daher eine Notwendigkeit, um auf dieser „fürchterlichen Welt“ als Mensch zu bestehen. In der Literatur hat er sein alleiniges Schlacht- und Spielfeld gefunden und seine Werke sind auch deshalb bis heute so gültig, da er trotz detailreicher Schilderungen kein überflüssiges Wort verliert. Vielmehr schafft er groteske Sinnbilder oder Parabeln, die die Widersprüche des Lebens in sich bergen, ohne von ihm erklärt, kommentiert oder gar moralisch bewertet zu werden.

 

UNSERE INSZENIERUNG

Das Bild vom ungeheuren Ungeziefer ist ein großes Sinnbild. In Gregor hat Kafka auch seine eigenen metaphysischen Seelenanteile hineingelegt und seine ganze Liebe zur Kreatur. Man merkt, wie er für Gregor empfindet und sich mit dessen tiefer Gespaltenheit identifiziert. Hat er sie ihm doch zugeschrieben, um sie aus sich selbst herauszuwerfen, sie vor sich zu sehen. Und genau das ist die Grundsituation auch unserer Inszenierung, wenn wir nun Kafka beim Schreiben und Entfalten seiner Erzählung DIE VERWANDLUNG zuschauen dürfen. Wir erleben, wie er sich in Gregor verwandelt, sich ihn zueignet und vorstellt, mit ihm kommuniziert und immer wieder mit ihm verschmilzt. Dabei kommt es wegen Gregors innerer Zerrissenheit auch immer wieder zu grotesken Situationen, die wir auch in unserer Inszenierung herausarbeiten.

 

Da alles, was wir auf der Bühne sehen und hören, aus Gregor selbst kommt bzw. aus seinem Schöpfer Franz Kafka, habe ich als Regisseurin eine künstlerische Form finden wollen, die dieser Perspektive entspricht. Und so gibt es bei uns nicht verschiedene Schauspieler*innen in verschiedenen Rollen, sondern genau einen Schauspieler, der in die Rolle von Franz Kafka schlüpft, um alles aus sich selbst herauszuwerfen, die Texte, die Bilder. Gregor selbst ist nicht als Insekt sichtbar, aber alle weiteren Figuren (Eltern, Schwester, Bedienerin, Prokurist, Zimmerherren) werden über projizierte Zeichnungen von Jaafay Akbari auf der Bühnenrückwand visualisiert und ihre Stimmen kommen vom Band. Manchmal schlüpft Rudi Müllehner als Kafka auch in diese Figuren hinein, um sie auszuprobieren, live in Szene zu setzen.

 

Weite Teile der Erzählung kommen über Toneinspielungen (Technik: Lisa Ryzy, Michael Kment) auf die Bühne, die wir zuvor aufgenommen haben und nun über stumme Szenen, Bild-Illustrationen und Handlungsverläufe legen. Auf diesen Aufnahmen ist ebenfalls Rudi Müllehners alleinige Stimme zu hören und wie er sie auf die verschiedenen Figuren verteilt, die Kafka gerade ersinnt, beschreibt und im Spiel entfaltet.

 

Allein in seinem Zimmer, schreibend und spielend, schaut Kafka auch bei uns auf der Bühne hinter die vordergründige Welt, ohne sich zu sehr mit ihr praktisch anlegen zu müssen. Aber es eröffnet sich aus dem Sichtfeld Gregors und aus dessen seelischen Abgründen auch seine Sicht auf die Welt.

 

ENTSTEHUNGSGESCHICHTE

Kafka schrieb DIE VERWANDLUNG binnen drei Wochen in seinem kleinen Zimmer in der elterlichen Wohnung in Prag nieder. Die Wohnung der Samsas ist der Wohnung der Kafkas nachempfunden. Ausgangspunkt unseres Stücks ist der 17. November 1912, als Kafka mit der Niederschrift begann. Er wanderte an diesem trüben Sonntag unruhig in seinem Zimmer auf und ab, da er schon drei Tage lang vergeblich auf einen Brief aus Berlin wartete. Von seiner späteren Verlobten Felice Bauer, die er kurz davor in Prag durch Max Brod kennengelernt hatte. Erst als er den ersehnten Brief dann doch noch an diesem Sonntag bekam, war er beruhigt und konnte seine Erzählung beginnen. Am 7. Dezember beendete Kafka dann seine „kleine Geschichte“, die ihm aber ekelhaft vorkam und mit der er nicht recht zufrieden war, wie wir aus seinen Briefen an Felice erfahren. Trotzdem sollte DIE VERWANDLUNG zu einer der größten Erzählungen der Moderne werden.

 

Was liegt nun in diesem Werk, das die Welt bis heute fasziniert und bewegt? Auch davon möchten wir in unserer Inszenierung eine Ahnung geben und hinter der großen gesellschaftlichen Relevanz der Verwandlung auch ihre universelle Dimension spürbar machen.

 

DIE MENSCHLICHE WELT – EIN DILEMMA

Denn in dieser „kleinen Geschichte“ schaut Kafka weit hinter die sichtbare Welt der Familie Samsa, sucht ihr Dilemma, sucht die Schuld und kann sie nicht festmachen, vergrößert die Familientragödie in eine gesellschaftliche und dann in eine der ganzen Welt. Dabei nennt er keine Namen, die für eine Schuld einstehen könnten. Wenn man die Schuldigen aber nicht findet, steckt die Schuld womöglich in einem selber? Wie und wie sehr macht man sich als Mensch mitschuldig an der Welt? Man will, kann es vielleicht auch nicht wissen.  

 

Kafka zeigt uns an Gregors Zerrissenheit die große Angst vor der Schuld. Denn er hat Gregor nicht gänzlich verwandelt, sondern dessen menschliche Seele in den Körper eines Ungeziefers gesperrt. Innerlich also noch Mensch, mit einem denkenden und fühlenden Bewusstsein, gibt es vor der Schuld der Zweibeiner kein Entkommen. Hierfür hätte sich Gregor vollständig verwandeln müssen.

 

DIE SCHULD DER ZWEIBEINER

Und so ist DIE VERWANDLUNG auch eine große Erzählung über die Macht von denen, die aufrecht stehen, von den Menschen. Das Bittere ist, dass die Geschichte von Gregor Samsa und seiner Familie ihren natürlichen Lauf nehmen muss. Denn die Mühle, die in der Moderne die Seelen zermalmt, ist unerbittlich. Ihr Mechanismus läuft und zermalmt das Subjekt. Es gibt keinen Schalter, ihn an- oder abzustellen. Jeder Griff nach dem Schalter bedeutet Macht. Und diese Macht steht den Menschen nicht zu. Wenn man sich aber in ein Tier verwandelt, sich klein macht, weil die immer mögliche Schuld der Zweibeiner beängstigend ist, wird man vom menschlichen Kreis ausgeschlossen, wird fremd und nicht mehr verstanden. An der Tragödie der Familie Samsa zeigen sich auch die menschlichen Mechanismen, die die Welt an den Abgrund führen, allen voran Verdrängung und Selbstbetrug, die vielen Abhängigkeiten im modernen Überlebenskampf, das gegenseitige Missverstehen und die Angst vor dem Fremden. Kafka ist auch deshalb bis heute so gültig, da er radikal an die Wurzel geht, ohne nur Symptome zu behandeln oder das Schema von Gut und Böse zu strapazieren. Das macht seine Texte auch so schmerzhaft, da sie verborgene Wahrheiten enthalten, die man gern von sich wegschiebt, aber gerade durch die Kunst offenlegen und vielleicht dann auch besser nehmen kann.

 

DAS VERDRÄNGTE UNBEWUSSTE

Kafka vermeidet es in seiner Kunst des Schreibens, eine Botschaft zu hinterlassen. Kein Interpretieren oder gar Moralisieren, nur ein minutiöses Schildern von Ereignissen und Empfindungen, in denen sich auch das verborgene Unbewusste gebührend Platz schafft. Auch in der Verwandlung wird das Psychische projiziert und das Subjektive verbildlicht. Und so ist dieses Werk ein einziger bildhafter Ausdruck von Gregor Samsas innerer Situation und gleichzeitig ein bewegendes Zeugnis von Kafkas geistiger Auseinandersetzung mit der „fürchterlichen Welt“.

 

Hoffnung kommt bei Kafka wirklich selten auf, doch durch seine Metaphysik lässt er den Fatalismus wenig zu. Man sieht Kafkas Figuren leben und leiden, ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, ihre auch im Unmenschlichen klägliche menschliche Gestalt. Der Zweibeiner müsste sich wirklich vor sich selbst fürchten oder zumindest sehr in Frage stellen. Und das hat ein Gewicht bis in unsere heutige Zeit.

 

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt…

 

DER BEGINN DER ERZÄHLUNG

Ein braver und tüchtiger Sohn, der als Handlungsreisender die Schulden seines Vaters abstottert, hat sich also über Nacht in ein riesiges Insekt verwandelt. Doch Gregor ist weder erstaunt, noch beunruhigt, sondern will zunächst einmal Ruhe bewahren. Und vielleicht ist das Ganze ja nur ein Traum, denn der Wecker dürfte auch noch nicht geläutet haben. Da klopfen sie aber schon alle an seine Tür, die Mutter, die jüngere Schwester und der Vater. Sogar die Stiefel des Prokuristen hört er im Vorzimmer knarren, muss dieser doch höchstpersönlich nachschauen kommen, warum sein Untergebener nicht zum Dienst erschienen war. Gregor lässt sich sogleich eine Ausrede einfallen, die Tierstimme jedoch, die nun aus seinem Körper dringt, versetzt die Mutter und Schwester in größte Besorgnis. Sie wollen sofort, dass ein Arzt kommt, der ungeduldige Vater aber verlangt nach dem Schlosser, denn Gregor hält wie auf Reisen auch zu Hause sein Zimmer penibel versperrt. Aufgescheucht von der Drohung des Prokuristen, dass seine Stellung nicht die sicherste sei, mit der er aber die gesamte Familie ernährt, schleppt sich Gregor daraufhin zur Tür. Er wirft sich auf das Schloss und beginnt den Schlüssel mit seinem Kiefer zu drehen. Dabei ist er gespannt, was die anderen bei seinem Anblick sagen würden. Denn würden sie erschrecken, dann hätte Gregor keine Verantwortung mehr, würden sie aber alles ruhig hinnehmen, dann hätte auch er keinen Grund, sich aufzuregen und alles wäre in Ordnung.

 

Nichts aber wird mehr sein wie früher in Gregors Leben und auch nicht in dem seiner Familie. Gregor hat zwar den Arzt oder den Schlosser nicht gebraucht, doch fortan wird der Schlüssel seines Zimmers nur noch von außen stecken. 

 

ZUM INNEREN UND ÄUSSEREN HANDLUNGSGESCHEHEN

Mit quälender Nüchternheit und erleichternder Ironie hat Kafka hier das Scheitern eines Befreiungsversuches minutiös abgehandelt und dabei tief in die seelischen Abgründe der Familie Samsa geschaut. Das groteske Bild, das er sich ausmalt, ist das eines Insekts, aber mit der Seele eines Menschen. Wie es sich anfühlt, mit menschlichen Gefühlen im Panzer eines Ungeziefers zu stecken, schildert Kafka grausam, aber mit Empathie. Die absurde Situation, in die er Gregor setzt, und aus der dieser nicht mehr herauskommt, ist auch Kafkas eigene und letztlich die der Welt.

 

Die verdrängten Wahrheiten, die Kafka ans Licht bringt, indem er Gregors Unbewusstes vom nächtlichen Traum ans Tageslicht zerrt, sind schmerzhaft. Denn Gregor träumt sich durch seine Panzerung zwar aus den Lasten und Pflichten seines alten Lebens hinaus, sein Protest ist aber genauso halb wie seine Verwandlung. Denn am Tag, wo ihm sein Bewusstsein im Weg steht, kriegt Gregor sogleich ein schlechtes Gewissen. Will er doch weiterhin ein braver Sohn und Bruder sein, gleichzeitig aber auch das Riesenjoch abwerfen, sich für seine Familie aufzuopfern und dabei ständig die eigenen Bedürfnisse hintanstellen zu müssen. 

 

Dieser innere Konflikt, sein großer Zwiespalt, wird Gregor nun zum Verhängnis. Er kämpft letztlich mit sich selbst und nicht nach außen. Das ist auch schwer möglich, denn die Familie wendet sich sogleich erschrocken von ihm ab und sperrt ihn weg. Auch, da er ihr in seiner nunmehrigen Ungestalt ständig vor Augen führen müsste, was sie aus ihm gemacht hat. Indem sie ihn ungewollt, aber weil es bequem war, dazu getrieben hat, sich in einen Insektenkörper zu sperren, um nicht mehr für sie funktionieren zu müssen. Aber solche Wahrheiten will man nicht hören und sehen. Ein uneingestandenes Dilemma auch der ganzen Welt, sich mitschuldig zu machen, ohne es zu wollen.

 

Aber auch Gregor steckt im Dilemma fest, in seinem Insektenkörper, den er nun nicht mehr abschütteln kann. Kafka hat ihn jedoch nicht in ein nützliches Insekt verwandelt, sondern in ein hässliches, unnützes, ja schädliches Ungeziefer. Da er damit nicht mehr herumschwirren kann, um Eltern und Schwester zu ernähren, diese sich vielmehr nun selbst abstrampeln müssen, um ihren Lebensstandard halten zu können, will er ihnen nicht noch mehr schaden. Und so beschließt Gregor nun, größtmögliche Rücksicht auf sie zu nehmen. Die Familie aber versteht seine Rücksichtnahme nicht. Sein Unglück ist nicht nur, dass in seinem Tierkörper eine zerrissene Menschenseele haust, sondern dass diese, so sehr sie zunächst bittet und dann zürnt, nicht mehr gesehen wird. Er ist seiner Familie nämlich so fremd geworden, dass er nicht mehr dazugehört. Und da man auch nicht mehr mit ihm redet, wie soll er da verstanden werden? Alle seine verzweifelten Versuche, sich seiner Familie anzunähern, scheitern an seiner Ungestalt und dass man ihm sein gutes Wollen als böses auslegt.

 

Kafka wäre aber nicht Kafka, wenn er den Keim dieses fatalen Missverständnisses nicht in Gregor selbst eingepflanzt hätte. Nämlich auch als dessen unverschuldete Schuld. Und so muss man sich nicht nur vor der eigenen Zweibeinigkeit fürchten, mit der man sich als Mensch so gerne über andere Erdbewohner erhebt, sondern auch vor den eigenen innerseelischen Kämpfen und verdrängten Abgründen.

 

Mit seinem unausgegorenen Protest verheddert sich Gregor also immer mehr in seine sowohl fremdbestimmte als auch selbstgemachte Tragödie. Das nächste Dilemma ist nämlich, dass die Familie nun auch immer weniger Zeit hat, ihn anständig zu versorgen. Und so wird er immer mehr sich selbst überlassen und verwahrlost einsam und unglücklich in seinem Zimmer, das nicht nur ein Stall geworden ist, sondern auch eine Rumpelkammer.

Gregor beginnt immer ungehaltener zu werden und seine innere Wut beginnt sich zu stauen. Als seine Tür zum Wohnzimmer einmal unbeabsichtigt offen steht, so sehr hat man den einstigen Sohn schon verdrängt, reißt er dorthin aus, um sich dem Violinspiel seiner Schwester hinzugeben und sie zu bitten, ihr den Hals küssen zu dürfen und mit ihm fortan in seiner Höhle zu hausen.

Die Rache der Schwester aber ist fürchterlich. Sie eröffnet über Gregor das Familientribunal und man fragt sich, was sie letztlich dazu veranlasst, über ihren einst so geliebten Bruder das Todesurteil zu sprechen.

 

Hatte sie im verwandelten Gregor nicht mehr den Bruder sehen wollen und warum? Vielleicht ist ihr Schmerz zu groß, Gregor in seiner Menschengestalt verloren zu haben, vielleicht hat sie sich zu sehr darüber erschrocken, dass er sie in seine stinkende Höhle ziehen wollte, nachdem sie den Geruch eines neuen und aktiveren Lebens geatmet hatte. Vielleicht aber ist es für ein siebzehnjähriges Mädchen einfach auch nur eine fürchterliche Vorstellung, von einem fremden Biest vereinnahmt zu werden.

 

Aber Gregor will gar niemandem Angst einjagen. Tatsächlich ist er seiner Familie aber immer fremder geworden. So fremd, dass er es nicht mehr erträgt, dass sie ihn so missversteht. Und so legt er sich nach den harten Worten der Schwester zum Sterben nieder. Ausgehungert und schwach, da man ihm schon zuvor das wichtigste aller Lebensmittel entzogen hatte, jene unbekannte Nahrung, die eine Nahrung allein für die Seele ist, die man unter seinem Panzer aber nicht mehr sah.

 

Auch die Selbstbehauptung kann also etwas Gefahrvolles haben. Es ist schwierig, sie durchzusetzen, ohne dass das eigene Ich oder ein anderes Schaden dabei nimmt. Das ist der Teufelskreis, den Kafka auch in der Verwandlung zeigt.

 

Gregors vollständiger Rückzug ist eine Erlösung. Aber er erlöst damit nicht nur sich selbst, sondern v.a. auch die Schwester und die Eltern aus einer auch für sie unerträglich gewordenen Situation. Nachdem er sein Leben aushaucht, wird er von der Bedienerin unwürdig entsorgt. Grete und die Eltern aber werden in ein neues Leben gehen, ohne sich dabei von ihren Scheinwahrheiten befreien zu müssen. Gregor jedoch, der ewige Zweifler und ein Gefangener seiner Widersprüche und Zerrissenheit, ist einer der verlorenen Helden Kafkas geworden.

Die Verwandlung von Franz Kafka

WAS THEATER ALLES SEIN KANN

Essay über die Reformierung des Theaters von innen heraus // Cornelia Metschitzer, 25.12.2022

Auch das Theater hätte genau jetzt die Gelegenheit, sich aus den vielen Krisen heraus zu erneuern. Aber nicht durch oberflächliche Aktionen, sondern mit tiefergehenden Reformen. Treten wir doch zunächst gemeinsam auf und sagen, dass sich das Theater auch in einer Krise befindet, niemanden wird es wundern. Sagen wir aber gleichzeitig, dass wir uns nicht nur durchschummeln wollen bis es wieder besser wird, sondern dass wir an das Theater glauben, und wie, und dass wir unser Bestes und Möglichstes dafür geben werden, damit es wieder läuft. Aber um das bloße Laufen geht es gar nicht, sondern um die grundsätzliche Frage, was Theater überhaupt ist und was es für die Menschen sein kann.

 

Suchen wir neue Wege

Es gibt keine eindeutige Richtung, kein Richtig oder Falsch am Theater. Aber wenn wir z.B. versuchen, das Theater weniger als Ware, sondern mehr als lebendigen Prozess und Austausch zwischen Künstler*innen und Publikum zu sehen, könnten sich neue Wege auftun. Das aber braucht Zeit zum Ausprobieren, Zeit und Ressourcen, das Vertrauen des Publikums wieder zu gewinnen, indem es sich wieder angesprochen fühlt. Das aber ist ein längerer Weg und falls sich das Theater plötzlich wieder erholt, sollte uns das erst recht misstrauisch machen. Sobald wir uns wieder in Sicherheit wähnen, verpassen wir schon die Gelegenheit, über das Theater grundlegend nachzudenken und neue Weichen für seine nachhaltige Zukunft zu stellen.

 

Probieren wir alles aus

Setzen wir die Mittel, die wir bekommen haben, um die unmittelbarste Krisenzeit zu überstehen, doch auch ein für starke innere Erneuerungsversuche und kehren wir nicht dorthin zurück, wo die Scheinwerfer nur mit Schein um sich werfen. Machen wir neue Angebote, probieren wir alles aus, ohne Angst vor Holzwegen, ohne Angst, nicht mehr geliebt zu werden. Für unsere Aufrichtigkeit könnte uns das Publikum wieder zu schätzen beginnen, nicht für das Theater am Theater.

 

Alte Denkmuster und Selbstbilder auflösen

Es wäre ziemlich grotesk, würde man etwa weiterhin ein altes Bild von Bildungsbürgertum bemühen am Theater, so als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Wir sollten aber auch nicht wie das Musikorchester auf der Titanic sein, das verzweifelt weiterspielt, in immer lustigeren Tönen, obwohl ihm das Wasser schon bis zum Hals steht. Wir sollten uns vielmehr auch am Theater einsetzen für eine Zukunft. Und diese Zukunft wird anders ausschauen. Wir könnten sie auch am Theater mitbauen. Aber nicht mit den alten Mustern, den alten Mythen, Denkweisen und Theaterstandesdünkel, mit der Erfolgssucht, dem sich Anbiedern ans Publikum, der elitären Attitude, dem auch ungewollten Ausschließen großer Bevölkerungsteile, dem Marketingholzhammer. Die Welt ändert sich, die Menschen ändern sich, ändern wir uns auch und verharren wir nicht weiter in einem Standes- und Selbstbewusstsein, das obsolet geworden ist. Denn andere Repräsentationen sowie Inklusionen sind nötig, um eine sich ändernde Gesellschaft auch am Theater hinreichend abzubilden.

 

Intakter Glaube an das Theater

Grundsätzlich dürfen wir zuversichtlich sein, dass das Präsenztheater weiterhin Zukunft hat. Als öffentlicher und gemeinsamer Ort bleibt das Theater gerade in unserer multimedial geprägten Zeit ein wichtiger und leidenschaftlicher Ort der persönlichen Begegnung. Was sich zwischen den Menschen abspielt, hat in der physischen Präsenz eine andere Qualität und Dimension. Gemeinsame Erlebnisse am Theater können viele Prozesse in Gang setzen, viele Impulse geben, man kann am Theater sehr offen aufeinander zugehen, sich öffentlich und gemeinsam auseinandersetzen mit Stoffen, Themen, Darstellungsformen, auch schmerzhaften, tabuisierten. Und das sollte eine Gesellschaft nicht verlernen. Auch und gerade in so schwierigen Zeiten.

 

Theater als Augenblickskunst

Das Theater bleibt gerade in schwierigen Zeiten ein unverzichtbarer sozialer Ort, an dem man für das Leben lernen kann. Das hat nichts Pädagogisches, sondern liegt im Wesen des Theaters als Augenblickskunst begründet. Theater als Live-Erlebnis muss bei jeder Vorstellung den ersten Augenblick neu herstellen. Das Publikum teilt dann diesen Moment. Stets muss man im gleichen Augenblick agieren und reagieren, senden und empfangen. Das Theater braucht dafür sein Publikum, braucht es nicht nur zum Adressieren, sondern auch als mitwirkende Kraft. Und deshalb kann man nur gemeinsam mit ihm Theaterzukunft denken. In diesem Augenblick ist auch das große Versprechen angelegt, ihn unmittelbar und auf Augenhöhe mit dem Publikum teilen zu wollen. Auch wenn das Theater reflektiert, vieles zusammenschaut, Konzepte realisiert und im Vorfeld länger proben muss, um diesen ersten Moment bei jeder Vorstellung neu herstellen zu können, ist und bleibt es eine Augenblickskunst und das birgt sehr viele Möglichkeiten.

 

Theater als Schein, der nicht betrügt

Es wird immer mühsamer, den Erscheinungen und Ereignissen unserer Zeit so zu begegnen, dass daraus etwas Konstruktives entstehen kann. In der Kunst aber sollte eine konstruktive Auseinandersetzung immer möglich sein. Denn die Kunst und damit auch das Theater ist selbst ein Konstrukt, eine Welt in der Welt, wo im Schutz der Fiktion, der Figuren ein Als-Ob erzeugt wird, das auf beiden Seiten große Offenheit zulässt. Man trifft sich mit seinem Publikum an einem geschützten Ort, wo man im Scheinwerferlicht alles offenlegen kann, ganz ohne Angst und Scham. Und das Publikum spielt mit, indem es das Gezeigte für wahr nimmt, aber gleichzeitig weiß, dass es im Theater sitzt. Diese doppelte Haltung ist das stille Einverständnis, der große Spielraum, darin hat dann alles, wirklich alles Platz.

Am Theater waltet also ein Schein, der nicht betrügt, hier lässt sich noch vieles sagen und annehmen, was im Leben oft nicht oder nur schwer gesagt oder angenommen werden kann. Theater bietet damit die große Möglichkeit, tief unter alle Oberflächen zu schauen und den äußeren Schein zu durchbrechen. Es kann dabei die Menschen in ihrer ganzen Geschichtlichkeit erfassen, in einem einzigen Augenblick die auch versteckten Motive und Ansichten, die sie treiben, sichtbar machen und ihre Widersprüche aufzeigen. Entwicklungen von Figuren und Situationen finden ebenfalls offen statt und es muss dabei nicht auf das Einverständnis des Publikums abgezielt werden.

 

Theater als Spiegel der Gesellschaft

Theater konfrontiert die Menschen immer unmittelbar mit sich selbst, ihren Hoffnungen, Sehnsüchten, auch ihren Widersprüchen, Abgründen. Wie sehr sich das Publikum dabei in den Bühnenfiguren wiederfinden kann, mit ihnen mitfühlen kann, sich über sie ärgern kann, hängt auch davon ab, wie viele Andockmöglichkeiten man bietet und dass Widersprüche nicht geglättet werden. Ihre jeweiligen Situationen, in denen diese Bühnenfiguren stecken, fühlen, denken, handeln, leiten sie. Wie sie sich dabei zeigen, welche Obsessionen, Ängste sie haben, in welchen Dilemmas, Abhängigkeiten, Konflikten, Glücks- und Unglücksmomenten sie stecken und wie sie an ihren Beziehungen und Verstrickungen wachsen oder eingehen, das alles kann ein Theaterabend hautnah vermitteln. Mit geformter Distanz und der bewussten Vermeidung von Gefühlen und Einfühlung wird aber am heutigen Theater viel Dramatisches weggerückt. Die Figuren werden nicht mehr in ihrer ganzen Tiefe erfasst. Das Postdramatische Theater hat sich durchgesetzt, das gefährliche und gefährdete Subjekt wurde verbannt und das Dramatische dem Theater ausgetrieben. Empathie und Glaubwürdigkeit sollen vermieden und das Publikum zum Denken gebracht werden. Als ob sich das ausschließen würde. Die dualistische Sicht hat auch am Theater Einzug gehalten. Verstand statt Gefühl. Schablone statt Hormone. Der Campus der Soziologie stülpt sich über alles Fleisch und Blut des Theaters und seine Lebendigkeit, seine Uferlosigkeit verliert. Allzu theoretische Zugriffe können das Theater bis zur Unkenntlichkeit zerdenken und zertrümmern und viel frustriertes Publikum hinterlassen.

 

Theater als reelle Erfahrung

Als inszeniertes Konstrukt kann Theater sehr reelle Erfahrungen ermöglichen. Dabei kann es wie unter der Lupe auch sichtbar machen, was im täglichen Getriebe draußen oft untergeht, negiert, verdrängt oder verleugnet wird. Ein offener und tabuloser Austausch ist am Theater also besonders gut möglich, da hier dieser Schein waltet, der nicht betrügt. Was durch Kunst ausgesprochen oder gezeigt wird, hat immer auch diesen distanzierenden fiktionalen Charakter, der sowohl auf der Bühne als auch beim Publikum die Auseinandersetzung mit auch harten Themen und Stoffen erleichtert. Zugleich kann große Nähe und Tiefe erzeugt werden, wenn der Funke überspringt und man das Publikum erwischt. Theatererfahrung ist damit neben dem fiktiven Anteil immer auch eine sehr reelle Erfahrung, die immer in die Wirklichkeit einwirkt, weil sie durch wirkliche Menschen hindurchgeht. Künstler*innen verarbeiten dabei über ihre Imagination und Fantasie, über Reflexion und künstlerische Mittel und Formen das, was sie aus sich selbst und ihrer Wahrnehmung der Welt schöpfen. Dabei stechen sie mit ihren ungenormten Instrumenten auch ins Ungewisse. Gelingt es ihnen, ihr Publikum mit ihrer Kunst zu berühren, zu bewegen oder zumindest zu erreichen, entsteht Glaubwürdigkeit.

 

Theater als Ort der Glaubwürdigkeit

Glaubwürdigkeit zu erzeugen ist vielleicht die größte Kunst am Theater, weil die schwierigste. Es können aber gerade am Augenblicksort Theater echte Gefühle erzeugt werden, eine innere Erschütterung, ein spontanes Lachen, ein verhaltenes Schnauben. Unmittelbare Reaktionen zeugen von Glaubwürdigkeit. Wenn es den Schauspieler*innen gelingt, ihre Gefühle wirklich zu fühlen, ihre Gedanken wirklich zu denken, wird ihnen das Publikum dabei folgen.

 

Theater als demokratische Kunst

Theaterarbeit ist demokratische Schwerstarbeit, wo alles im Sinne des Ganzen geschehen muss, und wo gleichzeitig die Vielfalt aller Beteiligten sichtbar bleiben sollte. Theater kann einer pluralistischen Weltsicht sehr entgegen kommen, da es selbst keine Gewissheiten und Wahrheiten vorgibt. Theater freut sich daher über ein offenes Publikum, eines, das sich einlassen und überraschen lassen will, auch mit und von sich selbst. Im Theater als demokratisches Medium liegt auch seine Zukunft. Deshalb ist es wichtig, manch zähes Muster des Repräsentationstheaters zu durchbrechen, aber auch seine fortgeschrittene Kommerzialisierung zu untergraben. Dass die Regeln des Marktes so Einzug gehalten haben auch in unsere Kunst, das ist bitter v.a. deshalb, weil man es fast nicht mehr merkt. Deshalb ist es wichtig, dass Theater auch in schwierigen Zeiten für die Menschen da ist, so richtig da, mit all seinen geistigen und sinnlich-körperlichen Anteilen, die sich in immer neuen Variationen zusammenfügen lassen. Ein Fest der Leiber und Seelen kann Theater sein und eine Wundertüte ohne Boden, weil es in eine große Tiefe und Breite gehen kann und alles in sich aufnehmen und alles wieder abgeben.

 

Theater als Kunst mit vielfältiger Geschichte

In seinem Suchen nach heutigem Ausdruck wird sich das zeitgenössische Theater doch auch immer zu seiner eigenen Geschichte verhalten. Das Gegenwartstheater hat nicht nur eine vielfältige Dramen- und Theatergeschichte im Rücken, sondern auch eine Geistes-, Kultur- und Ereignisgeschichte. Theater baut immer auf etwas auf, denn es ist neben allen spezifischen Ausprägungen immer auch eine besonders intensiv aufnehmende und verarbeitende Kunst. Hierbei auch die eigenen Traditionen, den massiven Eurozentrismus aufzubrechen, an dem es sich festgezurrt hat, wäre gut. Aber nicht, um sich woke zu geben, oder um den liberalen Charakter von Kunst zu betonen, sondern aus echtem Interesse für entferntere Kultur- und Theatertechniken. Auch im Sinne des Experiments zur Erweiterung der Ausdrucksmittel und natürlich auch hinsichtlich unseres Publikums in einer immer globaler und multikultureller werdenden Gesellschaft. Und was liegt näher, als dies auch durch eine verstärkte multikulturelle Zusammensetzung der Theaterteams zu erreichen. Zumal Theaterkünstler*innen immer auch ihre persönlichen Geschichten und subjektiven Wahrnehmungen in ihre Theaterarbeit einbringen. Ebenso, wie wir nach einem offenen Publikum suchen, sollten daher auch wir selbst offener werden. Dies gilt auch für den einzelnen Theatermenschen, sich grundsätzlich frei zu machen von allen Selbstbegrenzungen, auch von Dogmen, außer man spielt mit ihnen. Am Theater muss man täglich daran arbeiten, sich für den Moment zu öffnen. Auch deshalb, damit der Einfall einfallen kann. Man muss sich mit vielen Gedanken vollsaugen und dann wieder alles vergessen für den Augenblick. Das erfordert eine täglich hohe Dosis an Konzentration und damit auch Zeit. Unter Zeit- und Produktionsdruck arbeiten zu müssen, entspricht nicht den Anforderungen des Theaters. Nur durch Routinen gelingt es uns, in immer kürzeren Zeiträumen immer mehr Premieren herauszuklopfen. Diese Routinen, so bequem sie ebenfalls sind, gilt es zu durchbrechen. Aber Corona hat hier ohnehin eine Zäsur bewirkt.

 

Theater als unberechenbare Kunst

Theaterarbeit ist also ein ständiger lebendiger Prozess und Austausch. Diese Prozesshaftigkeit des Theaters liegt bereits weit vor der unmittelbaren Gegenwart in der Theatergeschichte und setzt sich fort in der Gegenwart im gemeinsamen Prozess des Erarbeitens eines Theaterwerks sowie in weiterer Folge in den gemeinsamen Prozessen mit einem Publikum. Und deshalb kann man Theater auch nicht fassen, nicht festnageln, sondern kann ihm immer wieder nur freien Lauf lassen. Trotz aller Konzepte, trotz aller Etikettierungen, aller Moden und Zwänge. Theater ist immer lebendig und unberechenbar. Die Unberechenbarkeit des Theaters kann dabei auch die Theatermacher*innen selbst immer wieder aufs Neue überraschen, sodass man letztendlich vor der Premiere selber staunt wie ein Kind und sich fragt, wie man das eigentlich gemacht hat. Man weiß letztlich nicht, was aus dieser Wundertüte Theater herauskommt und das ist auch gut so.

 

Theater in der Kommerzfalle

Nun ist aber Theater keine reine Wunderwelt, sondern auch tief in gesellschaftlichen Mustern und Verkrustungen verstrickt. Theater hat z.B. fast immer den Druck, möglichst viel Publikum zu lukrieren und Karten verkaufen zu müssen. Wenn man diesen Zwang von Anfang an mitdenken muss, hemmt das die eigene Theaterarbeit enorm. Das Hemmende beginnt aber auch schon bei der Auswahl der Stoffe und Stücke, wenn sich die bange Frage aufdrängt, ob das Publikum das auch wirklich sehen will. Aber diese Frage ist falsch, denn es gibt nicht nur das eine Publikum. Ebenso wenig wie es pauschales Theater und pauschale Theatermacher*innen gibt, gibt es auch nicht das pauschale Publikum, das man bedienen kann, auch wenn viele Theaterkonventionen darauf abzielen. Das Fahrwasser, auch was die öffentliche Berichterstattung über das Theater betrifft, ist häufig das immer gleiche. Wie und wie umfangreich sich Theater im Vorfeld öffentlich darstellt oder dargestellt wird, in den Pressekonferenzen und -aussendungen, in den Vorberichten, dann auch in den Kritiken selbst, steuert den Publikumszulauf und die Erwartungshaltungen mit. Grundsätzlich ist das auch wichtig und Teil zahlreicher Bemühungen, der Kunst und Kultur insgesamt einen größeren Stellenwert zu geben in der Öffentlichkeit. Wenn aber auch das Theater und die Medien das gängige Werbemuster übernehmen, so fördert das einen zu kalkulierten Theaterbesuch. Der Schein stülpt sich auch über das Theater, statt dass dieses ihn offenlegt. Bestimmte Erwartungen werden geweckt und bedient, Namen werden zu Marken, als wäre das Theater ein fertiges Produkt, wo Geschmäcker bedient und die Zutaten auf der Verpackung ausgewiesen werden könnten. Solch ein Theater kann nur ein Ablaufdatum haben, wenn es sich so massiv auf den Markt zuschneiden lässt, inklusive Stückdauer, die, wenn sie eineinhalb Stunden überschreitet, fast schon eine Allergiewarnung ist. Für das Theater gibt es aber keine Rezepte, seine Augenblickskraft, seine Überraschungsmomente lassen sich nicht vorhersagen und wenn es pauschale Erwartungshaltungen, vermeintliche Vorlieben und gängige Gewohnheiten bedient, wird es ein Event unter vielen und leicht durch andere Events ersetzbar. Abseits davon kann man als kleine Initiative nur bestehen, wenn man weiterhin auf die Aufmerksamkeit, die Neugierde und Unvoreingenommenheit der Theatergeher*innen vertraut und dabei hofft, auch in leiseren Tönen sein Publikum zu erreichen. Auf dass es am Theatermarktplatz auch bis in die kleinsten Nischen vordringt, dort ebenfalls seinen Vertrauensvorschuss gewährt. Gerade die kleineren Theater haben nicht ohne Grund ein so treues Stammpublikum. Es kontinuierlich zu vergrößern braucht seit jeher viel Zeit und viel Geduld.

 

Theater als lebendiger Prozess

Wenn man sich bewusst macht, dass das Theater kein pauschales Ereignis, sondern ein lebendiger Prozess und unmittelbarer Austausch zwischen Künstler*innen und Publikum ist, dann würde man nicht wieder so leicht ins alte Fahrwasser kippen. Wenn man aber glaubt, vermeintliche Erwartungshaltungen erfüllen zu müssen, um genügend Karten zu verkaufen, ordnet man das Publikum ein und bringt es und sich selbst, bringt das ganze Theater um seine Möglichkeiten. Man merkt es aber nicht, weil auch am Theater eine große Betriebsamkeit herrscht. Ein rasender Stillstand kann auch am Theater entstehen, der durch Hyperproduktivität und Pseudo-Avantgarde zwar verschleiert werden kann, künstliche Hypes und künstlicher Fortschritt haben jedoch nicht die Kraft, das Theater auf Dauer am Leben zu erhalten. In einer Zeit, wo sich so vieles ändert, sollte deshalb auch das Theater alles daran setzen, sich von innen heraus mit zu verändern, alte Muster zu durchbrechen. Dann kann es auch in Zukunft noch genügend Publikum finden. Es als Konsumentinnen und Konsumenten anzusprechen, hat keine Zukunft, denn das Konsumverhalten wird sich ändern. Und Theatergeher*innen lassen sich nicht mehr abfertigen, wenn sie einmal erlebt haben, was Theater alles sein kann. Sie vergessen ihre negativen Theatererfahrungen nicht und wenn man schon der Jugend das Theater versaut, wird auch nicht genügend Erwachsenenpublikum nachwachsen können.

 

Theater auch als Ort, dem Lärm und Ramsch zu entkommen

Dass sich das Theater schon so lange im Kreis dreht und sich zu sehr an Äußerlichkeiten wie etwa Promifaktoren oder im Weg stehende Bühnenbilder orientiert, ist schade. Das Vertrauen auf seine immanenten Kräfte ging verloren. Die Kraft der Fantasie, des Augenblicks und des Widerspruchs. Die Inszenierungen wiederholen nur allzu oft den Status Quo oder zertrümmern jede emotionale Andockmöglichkeit. Dass man bei der Inszenierung und Darstellung auch öfters ins Gegenteil gehen könnte, um die ganzen Widersprüche des Menschlichen aufzuzeigen, wird zu selten ausprobiert. Stattdessen wird auf der Bühne gern künstlich geschrien oder Tempo gemacht, um fehlenden emotionalen Ausdruck zu kompensieren oder längere Passagen vermeintlich abzukürzen. Wären die Regisseur*innen und Schauspieler*Innen mehr im Moment, würden sie der Kraft der Stoffe mehr vertrauen und nicht nur ihren Konzepten folgen, sondern auch ihrem Gespür, könnten sie viel mehr im Augenblick sein. Stattdessen werden im Vorfeld ersonnene Regiekonzepte durchgeboxt, oft an den Schauspieler*innen und damit auch am Publikum vorbei. Die Augenblickskunst wird am Theater nicht so entfaltet wie dies möglich wäre durch Menschendarstellung. Der tragende Moment braucht aber oft nur ein inneres Durchdringen. Das ist allerdings anspruchsvoll und zu knappe Probenzeiten lassen dafür oft nicht genügend Zeit. Vor allem auch die stillen Momente zuzulassen, ohne Angst vor Innigkeit und Gefühlen, würde ein Augenblickstheater in seiner dichtesten Form ermöglichen. Wir sollten daher auch wieder mehr auf die besondere Kraft der Reduktion vertrauen, auch um besser zum Kern der Stücke zu kommen. Das Publikum könnte dann mehr von seiner Imaginationskraft beisteuern und auch mehr Nuancen erkennen. Es könnte sich ebenfalls mehr einlassen und dabei auch einmal dem Lärm und dem Ramsch der Welt entkommen. Reduktion am Theater hat eine Qualität, die nicht genügend gewürdigt wird, da sie den üppigen Sehgewohnheiten widerspricht. Aber genau hier könnte sich das Theater den gängigen Mustern widersetzen, nur das erfordert auch Mut. Den Mut, Erwartungshaltungen zu brechen und v.a. auch ohne viel äußeres Beiwerk im und durch Schauspiel zu überzeugen. Aber das muss man nicht nur wollen, sondern auch gelernt haben und können.

 

Theater in der Selbstvergewisserungsfalle

Indem Theater viele Möglichkeiten hat, den äußeren Schein zu durchbrechen und damit auch die ganzen Scheinwahrheiten, auf die unsere Unterhaltungs- und Konsumkultur aufbaut, könnte es sich als emanzipatorisches und kritisches Medium behaupten. Wenn das Theater dem Publikum zu wenig Angebote macht, sich selber in Frage zu stellen, setzt es den Scheingewissheiten, der Scheinberuhigung und dem täglichen, oft unbewusstem Selbstbetrug nicht genug entgegen. Der Mensch wird auf der Bühne zu bloßem Anschauungsmaterial objektiviert. Auch, um die Theaterbesucher*innen nicht mit den eigenen Widersprüchen und Abgründen zu belästigen. Aber auch die alte humanistische Kraft von Theater scheint obsolet, denn es mutet inzwischen sonderbar an, sich über das Theater als kultivierter Mensch seiner selbst vergewissern zu wollen. Nur wenn man die Selbstvergewisserungsfalle umgeht, kann am Theater der Horizont geöffnet, auch der Status Quo aufgebrochen werden, kann unsere Kunst ihre ganze emanzipatorische und verändernde Kraft bewahren und immer wieder neu entfalten. Theater, das vermeintliche Wahrheiten, bequeme Meinungen und den Status Quo durchbricht, wird sich dabei immer auf die Kraft des Augenblicks verlassen können. Es braucht dafür aber ein aktives Publikum, das mitgeht, mitfühlt, mitdenkt. Und wir vom Theater müssen dafür sorgen. Für ein Publikum, das sich und die Welt immer wieder aufs Neue entdecken will und keine Scheu hat, sich selbst im Theater zu begegnen.

Nivellierungstendenzen vermeiden

Theater ist ein Ort der Artenvielfalt, auch wenn in diesem Text viel Kritik geübt wird. Wie Theater geht, lässt sich nicht sagen, auch hier nicht. Aber um das geht es gar nicht, sondern darum, die ganze Palette seiner Möglichkeiten erahnen zu lassen, um sie dann auch ausprobieren und nützen zu können. Damit wieder mehr Publikum kommt. Unsere gemeinsame Anstrengung könnte es sein, jede und jeder auf die eigene Art und Weise, die Artenvielfalt des Theaters zu verbessern und allen Nivellierungstendenzen entgegenzutreten. Der Wildwuchs in der Theaterlandschaft muss gefördert werden und die freien Theater dürfen nicht eingehen bzw. müssen auch dem Theatermacher*innen-Nachwuchs genügend Möglichkeiten gegeben werden, sich in die Theaterlandschaft einzupflanzen und zu erblühen. Gerade die jungen Kräfte haben noch den Saft und den Mut, Neues auszuprobieren und sich hineinzustürzen in das Ungewisse und in den Augenblick.

 

Das zu sehr Berechnende muss weg

Zusammenkünfte am Theater zum gleichzeitigen individuellen und gemeinsamen Erleben sind reich an Perspektiven. Jede und jeder lässt sich individuell auf das Bühnengeschehen ein und niemand weiß, wo es hingeht. Theater stillt auch das legitime Unterhaltungsbedürfnis des Publikums und gönnt ihm gerade auch in harten Zeiten von Herzen das Lachen. Der Humor hatte am Theater immer schon eine anarchische Kraft. Oft lässt sich dem Schmerz nur noch mit schwarzem Humor begegnen, da auch dieser im Innersten weh tut. Das Theater lebt immer noch von seiner Komödientradition des volkstümlichen Improvisationstheaters und dieses von seiner radikalen Ungezügeltheit und Kritikfähigkeit. Theater hat aber oft auch Sicherheitsstufen eingebaut, die v.a. dem kommerziellen Gedanken, auch dem uneingestandenen, und dem Prestigetheater dienen. Dieses allzu Berechnende am Theater müsste weg, denn es entspricht nicht dem unberechenbaren und ungeleiteten Wesen von Kunst. Gelingt es dem Theater, sich durch verstärkte Selbstreflexion und Neupositionierung, durch das Überdenken seiner Begriffe, das Zusammendenken rivalisierender Strömungen, durch Cross-Over-Experimente, das Ablegen von eindeutigen Rollenzuschreibungen, das Aufbrechen von Monokulturen, durch den Mut zur Reduktion, das Wegwenden von Theaterformeln, das Reagieren auf veränderte gesellschaftliche Realitäten, das Zurücknehmen seines moralischen Hoheitsanspruchs, das Ausbrechen aus Modeströmungen und Negieren der Warenförmigkeit sein Publikum zu bewegen, aufzurütteln, immer wieder neu zu überraschen, ihm etwas zuzutrauen, anstatt es zu bestätigen, zu besänftigen, auszupowern oder abzulenken, dann wird sich das Theater auch in Zukunft halten können. Aber daran ist zu arbeiten.

 

Wenn man glaubt, sein Publikum mit zu viel Konfektion, Konvention oder auch (heikles Thema!) Pseudooriginalität bedienen zu müssen, nimmt man es - auch ungewollt - nicht ernst oder beugt sich - auch unreflektiert - der eigenen Bequemlichkeit. Theater ist und bleibt produktive Konfrontation und man muss keine Angst haben, sein Publikum zu überfordern oder zu vergraulen, auch nicht in Zeiten, wo vieles unverständlich und schmerzhaft geworden ist.

 

Theater als offener Ort

Theater ist ein demokratischer und ehrlicher Ort. Ein Ort, der dafür wie geschaffen ist, sich mit dem Leben zu befassen und die Grenzen der Realität durch Möglichkeitsentwürfe zu überschreiten. Theater wird immer die Grenzen des Realen überschreiten, weil es in keiner Sekunde irgendeine äußere Realität nur abbildet, sondern sie aufgreift, um sie inhaltlich und künstlerisch zu durchdringen und zu formen. Dass dabei nicht nur den offensichtlichen Erscheinungen Beachtung geschenkt wird, sondern auch all dem, was unsichtbar (gemacht) vor sich geht, was sich auch tief drinnen in den Menschen abspielt, gibt dem Theater die Möglichkeit, ein dichteres und umfassenderes Bild von Mensch und Welt zu zeichnen und sich in seinen Sujets zu vertiefen. Das Unkalkulierbare im Menschlichen wird nicht ausgeblendet. Am Theater rein kalkuliert oder nach strikten Regeln oder Schulen vorzugehen, ist eigentlich unmöglich, da echte Menschen auf der Bühne stehen und auch der Augenblick immer dazwischenfunken kann, wenn man ihn lässt. Methodisch zu arbeiten ist jedoch wichtig und gut, sofern die Methoden auch immer wieder reflektiert werden. Offen zu bleiben und verschiedene Zugänge auszuprobieren und zu verknüpfen, erweist sich in der Theaterarbeit immer als sehr fruchtbar, denn das einengende duale Denken am und über Theater kann dadurch aufgebrochen werden. Woher der allgemeine Irrglaube kommt, dass anspruchsvolles Theater und Unterhaltung bzw. emotionale Teilnahme sich ausschließen sollten, ist ein Rätsel. Denn es ist immer möglich, das Publikum mit dem Bühnengeschehen emotional zu erreichen und trotzdem geistig zu fordern. Dem Publikum während der Vorstellung seine Theatermittel offenzulegen, es zum Denken anzuregen und es gleichzeitig hineinzuziehen in das Geschehen, sodass es mit den Figuren mitleben kann, das schließt sich nicht aus. Wir experimentieren damit schon seit Jahren und haben daraus auch eine eigene Handschrift entwickelt, ohne damit das Theater neu erfunden zu haben. Vielleicht sollte man nur davon abrücken, das Theater immer wieder neu erfinden zu wollen.

 

Theater als wirkungsmächtiger, kompromissloser Ort

Viele Theaterreformen waren und sind durch ihre Wirkungsästhetik motiviert, was zeigt, wie wichtig das Publikum für das Theater immer war und noch ist. Der Glaube daran, dass Theater die Gesellschaft auch zum Besseren verändern kann, wird aber immer wieder in Frage gestellt, da man nicht als naiv oder pädagogisch gelten will. Auch das Theater kann dazu beitragen, dass sich etwas zum Besseren verändert, aber das lässt sich nicht konkret machen und auch nicht konkret messen. Wenn man dem Theater seine Wirkungskraft abspricht, warum macht man es dann überhaupt noch? Unzählige Theaterreformen quer durch die Jahrhunderte und gehäuft anzutreffen in der europäischen Moderne, der ersten Avantgarde, zeigen die Spur, wie sich das Theater aus seiner jeweiligen Zeit und Gesellschaft heraus erneuern wollte und konnte. Diese Spur nicht nur als historisch zu sehen, sondern sich davon auch inspirieren zu lassen, lohnt immer. Man muss am zeitgenössischen Theater keine Angst vor dem haben, was uns unsere Theaterahnen hinterlassen haben. Manche Erneuerungen waren so radikal und so geleitet von dem Wunsch, in die Gesellschaft einzuwirken und dabei die ungewöhnlichsten Mittel auszuprobieren, dass wir uns von ihrem Mut, ihrer Experimentierfreude, ihrem Interesse auch für andere Kulturen und ihrem gesellschaftlichen Anliegen was abschauen könnten. Denn jeder Kompromiss, den das Theater machen muss, ist schlecht. Man kann auch nicht mit halber Kraft Theater machen. Und nur solange wir auch vom Publikum wieder Kraft zurückbekommen, ist es möglich, sich ganz und gar einzusetzen für diese Kunst. Aber sie macht natürlich auch eine große Freude und diese gilt es ebenfalls zu bewahren, um kreativ bleiben zu können. Unsere Theaterahnen haben uns einen riesigen Baukasten hinterlassen, mit dem wir wie die Kinder spielen können. Um auch daraus zu schöpfen und mit den Mitteln unserer heutigen Zeit Neues zu formen. Wir Theatermacher*innen sollten also aus unserem Produktionstrott öfter austreten und das Theater und seine Mittel immer wieder neu überdenken. Das geht am besten on the spot. Theatertheorien können in der Tat am effektivsten aus der Praxis gewonnen werden. Theater daher auch aus diesem Grund eher als Prozess und weniger als Produkt zu sehen, wäre gut.

 

Theater als großer Spielraum

Proben am Theater sind oft ein vielfältiges Ausprobieren an Zugängen, Möglichkeiten, Verfahren und Techniken und es ist spannend, dabei zu sehen, was möglich ist und was nicht, wohin dieses Ausprobieren führt und ob damit genau das zum Ausdruck gebracht werden kann, was man als Künstler*in gerade ausdrücken möchte. Theaterschaffende verhalten sich bei ihrer Arbeit, ihren Forschungen dabei nicht wie objektive Wissenschaftler*innen, da sie sich nicht als Subjekte aus ihrer Kunst herausnehmen können. Auch nicht aus ihrer Mit- und Umwelt. Damit hat man im Theater mehr Spielräume als im Leben selbst. Theater ist ein einziges Spannungsfeld, wo ebenso viele Herangehens- und Betrachtungsweisen zusammenkommen wie Menschen. Man erprobt sich dabei auch als Teamspieler*innen, denn wenn man nicht nur an Oberflächen kratzt oder nur abliefert, was die Regie einfordert, prallen in der Theaterwelt auch viele verschiedene Denk- und Sichtweisen aufeinander.

 

Theater als subjektive Kunst

Was die Dramen- und Literaturgeschichte betrifft, ist sie ein einziges historisches Archiv auch von Seelen, das zeigt, was Menschen in ihren jeweiligen Zeiten und Lebensumständen dachten, fühlten, machten. Kunstwerke, z.B. klassische Theaterstücke, bezeugen auf vielschichtige Weise, absichtlich oder unabsichtlich, was in ihnen Eingang gefunden hat. Denn Künstlerinnen und Künstler können sich nicht aus ihren Lebensumständen und den Ereignissen ihrer Zeit herausnehmen, im Gegenteil, meist versuchen sie gerade über ihre Werke der Welt zu begegnen. Sie kommunizieren mit der Welt. Kunstwerke sind daher auch stets über ihren Kunst- und Kommunikationswert hinaus wichtige geschichtliche Zeugnisse und Quellen und dienen nicht nur einem zeitgenössischen oder zeitübergreifenden Publikum, sondern auch anderen Empfänger*innen, etwa den Wissenschaften, die ihre jeweiligen Erkenntnisse aus vielfältigen Hintergründen und Kontexten gewinnen müssen. Wenn man wissen will, wie die Menschen insgeheim ticken in bestimmten Situationen, können gerade Kunstwerke sehr aufschlussreich sein, da in ihnen auch das Unbewusste und Verborgene sichtbar wird, auch das, was nebenbei mitausgesagt wird. Auch zur Erforschung von Künstlerbiografien werden zuvorderst deren Kunstwerke herangezogen, weil sie subjektive und intime Zeugnisse sind und auch noch lange nach dem Tod ihrer Urheber*innen weiterwirken können. Man hat auch dann noch gewisse Möglichkeiten, sagte etwa Bert Brecht. Kunstwerke sind und bleiben also auf der Welt als Teil der Welt, sofern sie nicht vernichtet werden. Wenn man sie vernichtet, selber, weil man an ihnen so sehr zweifelte, wenn andere sie vernichten, weil man damit auch symbolisch die Urheber*innen vernichten, auslöschen will, dann vernichtet man nicht nur ein Werk, sondern auch den Menschen dahinter. Wie Kunstwerke weiterwirken, was sie auslösen, wie sie andere inspirieren, zum Gegenteiligen herausfordern, das alles ist nicht direkt messbar. Kunstwerke gehen über ihren dinglichen Charakter immer hinaus, grundieren das Faktische und betrachten damit die Welt auch von innen heraus. Oft möchte man sich als Künstler*in auch selbst besser begreifen, mit sich selbst besser klarkommen, und daher dient die eigene Kunst vielen Künstler*innen auch als ganz persönlicher Erhellungs- und Heilungsprozess. Dieser hat aber auch die Kraft, anderen Menschen zu dienen, da er sich im Kunstwerk äußert bzw. speichert. Das Subjektive in der Kunst ist also immer gegeben, auch wenn man dem (eigenen) Subjekt misstraut, auch wenn man mittlerweile mit Algorithmen und Robotik experimentiert, wenn posthumane Zugänge versuchen, die Mangelhaftigkeit der Menschen aufzuzeigen und zu überwinden.

 

Theater als alles durchdringendes Medium

Aber Theater ist nicht in erster Linie ein Labor oder ein Versuchsfeld, um überprüfbare und messbare Erkenntnisse zu gewinnen, um einen neuen Menschen zu formen oder die Unzulänglichkeiten der Seelen und Körper wegzuoptimieren. Im Gegenteil, die Mängel und Abgründe des Menschlichen aufzuzeigen, um damit die vielen Dilemmas und Widersprüchlichkeiten des Seins zu zeigen, ein tieferes Verständnis für andere Lebensentwürfe oder -praktiken, andere Überzeugungen oder Weltsichten als die eigenen zu gewinnen, ist eine der wichtigsten Möglichkeiten und auch Anliegen von Kunst. Wer sich diesem Anliegen widmet und am humanistischen Wert von Kunst unverdrossen festhält, ist kein naives Träumerlein, sondern darf ernstgenommen werden. Dass es heute aber niemanden mehr interessiert, sich durch Kunst belehren zu lassen, dass Kunst auch für Manipulationen herhalten muss und humanistische Ideen sich auch in inhumane Ideologien verkehren können, wenn man verblendet wird, was in der Begeisterung leicht geschehen kann, steht ebenso außer Zweifel. Und auch hier ist die Geschichte voll von Zeugnissen, die, wenn sie von einer Nachwelt interpretiert und beurteilt werden, immer auch ein Verständnis verlangen für die Umstände ihrer jeweiligen Zeit. In der Kunst speichert sich mit dem Ideellen auch viel Impulsives. Auch manches, was der späteren eigenen Betrachtung nicht mehr standhält. Das ist aber auch gut, da dies Lern- und Entwicklungsprozesse fördert und Kunstwerke auch zu unmittelbaren Stimmungsbildern werden lässt, sodass sie als Zeitzeugnisse neben den Fakten auch viel Hintergründiges vermitteln.

 

Theater als Kunst der Entäußerung

Entäußerung hat in der Kunst eine besondere Qualität und Intensität. In der darstellenden und performativen Kunst ist sie unumgänglich. Selbstzensur im Schöpfungs- und Schaffensprozess ist mit Kunst nicht vereinbar. Es ist aber eine ganz andere Entäußerung als in gewissen einschlägigen Formaten, da hier nichts kommerziell oder emotional ausgebeutet werden soll.

 

Theater als konstruierende und dekonstruierende Kunst

Was kann und soll Kunst ausdrücken und offenbaren, wenn schon im Schaffensprozess selbst eingeebnet oder zerstört wird, was nicht sein darf? Seit den 1980/90er-Jahren gibt es im Theater den Drang nach Dekonstruktion. Diese Zertrümmerungen unhaltbarer gesellschaftlicher Konstruktionen finden auch als radikales Dekonstruieren des Theaters selbst statt. Wenn man dem Theater und seinen Repräsentationen misstraut, ist das nicht grundsätzlich schlecht, denn Kunst als manipulative Kunst ist unhaltbar. Kunst soll im Postdramatischen Theater daher die Zeichen der Repräsentation zerstören. Die unheile Welt wird nicht gezeigt, eine heile Welt sowieso nicht, nur noch die Form. Wenn die Form das Inhaltliche auffrisst, die Figuren sich nur noch in ihrer zugerichteten Form zeigen können, bleibt aber wenig Fleisch übrig. Die Ergebnisse wirken oft sehr abstrakt, weil Bezugsrahmen fehlen und weil das Sujet der Kritik oft nicht mehr erkennbar ist. Es können damit auch kaum Prozesse aufgezeigt werden, sondern nur der Kunst-Akt selber, und wie man sich die unliebsame Realität vom Leib rückt, indem man sie zerstückelt. Als Künstler*in kann man sich aber auch sehr hinter einem formalen Regiekonzept oder holzschnittartiger Darstellung verstecken, weil man nichts preisgeben muss von sich selbst, weil man sich nicht in die Seele und ins Hirn schauen lassen muss. Geschichten, Gefühle und Subjekte aus dem Theater zu verbannen ist daher nicht der Weg unseres Theaters. Wir bekennen uns nach wie vor zu einem Theater der Einfühlung, auch wenn es althergebracht erscheint, was es auch ist, was aber nicht grundsätzlich schlecht ist. Hat das als Postdramatisches Theater etikettierte Theater, das Geschichten, Gefühle, Charaktere und den unberechenbaren Moment so radikal weginszeniert, einfach nur Angst vor deren destruktivem Potenzial? Dabei müsste niemand am Theater Angst davor haben, eigene Abgründe in den Bühnenfiguren wiederzuerkennen. Es gilt doch die Vereinbarung des Als-Ob. Ist dieses Als-Ob vielen postdramatischen Theatermacher*innen auch zu althergebracht? Warum lässt man sich hier so ungern ein auf Subjekte? Will man den Bühnenfiguren nicht unrecht tun, ihnen nichts zuschreiben? Welche Verwechslung findet da statt? Die oft unerträglichen Zuschreibungen, die im realen Leben existieren und überwunden werden sollen, nicht auch noch am Theater zu wiederholen, ist das der dahinterliegende Denkansatz? Kann man am althergebrachten Theater, dem als Dramatisches Theater etikettierten Theater, nicht auch plastisch anschaulich machen, was Zuschreibungen anrichten können, indem man sie zeigt, in den Figuren, in Situationen, in ihren ganzen dramatischen Handlungs- und Entwicklungsverläufen? Was wäre Theater dann noch, wenn man alles Menschliche, auch das Abgründige wegmacht? Eine gesäuberte, künstliche, hoffnungslose Welt ohne Gefühle? Ist es zuallererst die Furcht vor Gefühlen und Kitsch, die das heutige Theater viel zu oft so blutleer macht? Gefühle der Begeisterung und Euphorie, die Künstler*innen oft treiben und tragen, können immer auch in den Wahnsinn kippen und Gedanken können sehr gefährlich werden, das alles weiß man. Aber was wäre die Welt, wenn es keine Ideale mehr gäbe, alles suspekt geworden ist, wenn auch eigene Gedanken, Gefühle und Handlungen nicht mehr zur Diskussion gestellt werden dürfen? Und deshalb lassen es sich viele Künstler*innen auch weiterhin nicht nehmen, ihre ideellen Anliegen zu vertreten und aktiv Stellung zu beziehen, auch radikal. Auch auf die Gefahr hin, zu verstören, belächelt, missverstanden, mit ihren Figuren verwechselt oder sogar angefeindet zu werden.

 

Theater als radikale Kunst

Vielleicht wäre es sogar mutiger, sich am Theater wieder mehr zu bekennen. Die Reibung zu suchen, die Auseinandersetzung. Vielleicht brauchen die vielen Nöte unserer Zeit wieder eher ein Theater der radikalen Anschauung als ein Theater der radikalen Zertrümmerung, um die Welt wieder besser fassbar zu machen. Radikalität ist nicht negativ zu sehen, da sie Phänomene an der Wurzel packt und alles ausgräbt, was man eigentlich nicht sehen oder hören will, wenn man es sich im Leben halbwegs gut eingerichtet hat. Theater aber hatte immer schon den Drang, Bequemlichkeit zu zerstören. Dass es dabei immer auch verstören wird, das geht gar nicht anders und zeigt auch, dass tatsächlich viel brodelt unter den Oberflächen. Auch bewusstes Provozieren durch Theater fand und findet immer wieder statt. Und dass die Provokation dann aber doch meist nicht stattfindet wie geplant, liegt dann wohl eher an ihrer zu großen Gewolltheit. Die Holzhammer-Methode ist nie sehr effizient. Eher einschlagen kann die ungewollte Provokation, das Fragile, Unkalkulierte im künstlerischen Prozess, wenn das, was raus muss, ohne Absicht rausquillt und in offenen Wunden landet. Denn als Künstler*in weiß man nie, wie und wie sehr einen die eigene Kunst trifft, wenn sie einfällt bzw. wie und wie sehr sie dann auch bei anderen Menschen einschlagen kann.

 

Theater als Kunst von und für Menschen

Am Theater macht man sich immer angreifbar, ob im positiven oder negativen Sinn. Theater ist keine moralische Anstalt, sondern ein lebendiger Ort des unmittelbaren Zusammentreffens. Theater ist Menschenkunst, von und für Menschen gemacht, wo man sich mittels Kunst auf die Welt und die anderen einlässt, als Künstler*in und als Publikum. Kunst kann die Menschen deshalb auch verbinden. Die Als-Ob-Situation des Theaters erleichtert vieles auf beiden Seiten, ohne dass dabei weichgespült werden muss. Das Theater ist zweckfrei, es muss nichts und kann alles, und es bleibt eine fragende Kunst, eine grabende Kunst, eine Augenblickskunst, unberechenbar und voller Überraschungsmomente. Außer man überlässt es dem Markt, der Ideologie.

 

Theater als unberechenbare Kunst am Puls der Zeit

Der Betrag auf der Eintrittskarte ist eine Farce und ein notwendiges Mittel der Finanzierung. Der immaterielle Wert von Theater, von Kunst ist nicht messbar. Deshalb wird Kunst auch gefürchtet. Weil sie unberechenbar ist. Diejenigen, die sie machen, nehmen nicht Milch, Mehl, Eier und Salz, Zucker und Schmalz, sondern Stoffe, Ideen, Gefühle, Gedanken, Eindrücke, Vorstellungen usw. Und das oft auch intuitiv, emotionsgeleitet, aus Überzeugungen oder Interessen heraus. Überzeugungen, Ideen, Denkweisen gibt es so viele am Theater wie in der Welt selbst und oft haben Theaterkünstler*innen ihr ganz persönliches Anliegen und machen Theater deshalb genau so, wie sie es gerade tun, wenn sie in kein Korsett gedrückt werden. Sie sind davon überzeugt, wie sie ihr Theater machen, sonst würden sie es anders machen. Deshalb kann auch keine Theaterkritik unserem Sujet je gerecht werden. Weder durch Lob noch durch Tadel. Es erfordert daher Mut und Anstrengung von uns, die eigenen Theaterüberzeugungen von Zeit zu Zeit auch mal infrage zu stellen. Und gerade in Krisenzeiten hätten wir dazu die Gelegenheit. Theaterkunst entwickelt sich ständig, weil sich auch Künstler*innen ständig entwickeln, sei es nach vor oder zurück. Wie die Zeit selbst. Theaterkunst hat nicht nur den Drang, immer am Puls der Zeit zu bleiben, sie ist am Puls der Zeit. Denn Theater ist Gegenwart und nicht vakuumverpackt, sondern atmet. Auch jeder theaterästhetische Zugang bleibt eine subjektive Entscheidung, sodass das Subjekt niemals aus dem Theater verbannt werden kann. Gut ist, wenn man dabei auch dem Publikum möglichst viel eigenen Spielraum lässt, um möglichst frei und unvoreingenommen rezipieren zu können. Kunst trifft auch beim Publikum nie nur auf einen wie immer gearteten Zweck, denn die Besucher*innen bringen v.a. sich selbst mit. Mit allem, wie sie im Moment geworden sind. Auch sie können sich durch Kunst freimachen, um offen zu sein für neue Impulse und Eindrücke. Eine Begegnung auf Augenhöhe am Theater ist nur dann möglich, wenn das Publikum so genommen wird, wie es kommt, mit seinen diversen Gefühlen und Hintergründen. Das offene Publikum will sich nicht nur berieseln lassen, es will auch über den eigenen Tellerrand schauen.

 

Theater als transzendierende, Grenzen überschreitende Kunst

Das Transzendieren des eigenen Bewusstseins, der Weltsichten, Wahrnehmungen und Gewohnheiten ist am Theater besonders gut möglich. Denn Theater ist ein Spielfeld, wo man die Grenzen, die man sich im wirklichen Leben aus Vorsicht, Rücksicht oder sonst einem Grund steckt, ohne Angst überschreiten kann. Wie das Lachen, so sollte man als Theatermacher*in dem Publikum auch gönnen, sein Bewusstsein zu erweitern. Theater sollte also ein mutiger und offener Ort sein, bleiben oder wieder werden, denn nur so lässt sich sein großes Potenzial an Emanzipations- und Veränderungskraft bewahren. Das doppelte Wesen des Theaters (real und fiktiv zugleich) macht es als radikale Augenblickskunst so einzigartig, so relevant und wichtig für die Einzelnen und die Gesellschaft. Denn Theater bewirkt immer etwas, auch wenn man es nicht gleich sehen oder ummünzen kann.

 

Theater als riesiger Baukasten

Was Theater mit den Menschen macht, hängt auch davon ab, wie man Theater macht. Wenn man dabei von einem bestimmten Zweck ausgeht, sei es ideell oder materiell, ist es bereits in gewisse Bahnen gelenkt und kann nicht mehr seine ganzen Möglichkeiten entfalten. Auch Vorsicht am Theater ist keine gute Wahl, weil damit das menschliche Leben nicht in all seinen auch tieferen Gründen und Abgründen erfasst werden kann. Auch auf die Gefahr hin, dass man Widerspruch erntet, wäre es nicht gut, dieses Widersprüchliche einzuebnen. Der unberechenbaren Kunst des Theaters zu folgen, gerade in unberechenbaren Zeiten wie diesen, kann auch ein wichtiger Akt sein, liberales Denken mit all den Konflikten, die eine freie und pluralistische Gesellschaft mit sich bringt, zu üben und zu stärken. Und das Theater kann sich umso besser für eine offenere Gesellschaft einsetzen, je mehr es von dem einsetzen kann, was es ausmacht. Wenn es nicht dual gedacht wird, sondern als Spannungsfeld, in dem alles, wirklich alles Platz hat. Zeitgemäßes Diskurstheater und rituelles Theater, nur um zwei vermeintliche Pole zu nennen, schließen sich dabei nicht aus, sondern können gerade auf der Live-Bühne immer wieder neu variiert und zusammengefügt werden, sodass etwas ganz Neues daraus entstehen kann. Theater hat alle Freiheiten und Möglichkeiten, in einer einzigen Inszenierung zusammenbringen, was ansonsten gerne in verschiedene Schubladen gesteckt wird. Theater ist daher immer auch angewandte Philosophie, offen und für alles zuständig, ohne relativieren zu müssen. Ein riesiger Baukasten, wo u.a. mit Verstand, Gefühl, Handwerk und Fantasie die wundersamsten und bizarrsten Kunstwerke entstehen können. Den Möglichkeiten am Theater sind auch deshalb keine Grenzen gesetzt, da es viele andere Künste in sich aufnehmen kann (Musik, Literatur, Film, bildende Kunst etc.) und Hybridformen entwickeln. Auch wenn es gedankenvoll ist, wird das Theater kaum Antworten liefern, auch wenn es eher performativ ist, wird es immer etwas aussagen. Und wenn es dabei auf Fragen, Staunen und auch Widerspruch stößt, erreicht es schon ganz vieles. Denn gerade auch im Widerspruch, in dieser aktiven und emotionalen Haltung liegt eine ganz große Kraft des Theaters, liegt auch eine Liebe zu ihm. In diesem Sinne ist auch dieser Text zu verstehen.

Was Theater alles sein kann

DAS WÄRE SCHÖN!

Über die Kraft des Theaters und wie es sich mitverändern kann // Cornelia Metschitzer, 03.11.2022

Die lange Dauer der Pandemie, weitere schwere humanitäre Krisen, wie nun der Krieg in Europa, ein stark verändertes Freizeitverhalten tragen dazu bei, dass dem Theater das Publikum spürbar abhandenkam. So auch uns. Aber es wäre zu einfach, das nur mit den Krisen zu erklären. Theater hatte es immer schon schwer und es mussten schon immer viele Anstrengungen unternommen werden, die Menschen ins Theater zu holen.

 

Immer wieder beschwören wir Bühnenvolk die große Wichtigkeit des Theaters für die Gesellschaft gerade dann, wenn schwere Zeiten ausgebrochen sind. Aber was sagt das all den vielen Menschen, die nicht ins Theater gehen? Diese Menschen muss das Theater gewinnen. Und das am besten schon in der Kindheit. Nur wer Theater selbst schon mal erlebt hat, seine Kraft, seine Faszination, kann ermessen, was damit eigentlich gemeint ist.

 

Grundsätzlich sind wir zuversichtlich, dass das Theater weiterhin bestehen kann, aber nicht so, wie es gerade dasteht. Denn auch das Theater muss sich mitdrehen im Karussell der Zeit. Als öffentlicher und gemeinsamer Ort bleibt es aber in unserer multimedial geprägten Zeit ein leidenschaftlicher und wundersamer Ort der Begegnung. Was sich zwischen Menschen abspielt, hat in der physischen Präsenz eine andere Qualität und Dimension. Gemeinsame Erlebnisse am Theater können viele Überraschungen bergen, viele Fragen aufwerfen, viele Oberflächen durchbrechen. Sich darauf einzulassen, zählt zum Schönsten, Besten und Sinnvollsten, was man in der Welt erfahren kann. Am Theater kann man also tiefe Einblicke in die Menschen, in ihr Fühlen, Denken, Handeln gewinnen. Man kann dabei offen aufeinander zugehen, sich öffentlich und gemeinsam auseinandersetzen mit Stoffen, Themen, Darstellungsformen, auch schmerzhaften, tabuisierten. Und das sollte eine Gesellschaft nicht verlernen. Auch und gerade in so schwierigen Zeiten.

 

Wir müssen alles unternehmen, die Menschen wieder ins Theater zu holen. An diesen einzigartigen und doch so mannigfaltigen Ort, wo das Innen und Außen des Lebens immer wieder neu verhandelt werden kann. Wo alles wie unter der Lupe erscheint, sodass man mehr und tiefer sehen kann als im täglichen Getriebe draußen. Seit Beginn an ist dem Theater eingeschrieben, sich mit dem menschlichen Leben zu befassen. Hierzu baute es sich sein Haus. Theater konfrontiert die Menschen dabei unmittelbar mit sich selbst, ihren Hoffnungen, Sehnsüchten, auch ihren Widersprüchen, Abgründen. Theater als Live-Erlebnis muss bei jeder Vorstellung den ersten Augenblick neu herstellen. Das Publikum teilt dann diesen Moment. Stets muss man im gleichen Augenblick agieren und reagieren, senden und rezipieren. Das Theater braucht dafür ein offenes Publikum, braucht es nicht nur zum Adressieren, sondern auch als mitwirkende Kraft. Und deshalb kann man nur gemeinsam mit ihm Theaterzukunft denken.

 

Es ist eine Kunst geworden, in der Realität den Erscheinungen und Ereignissen unserer Zeit so zu begegnen, dass daraus etwas Konstruktives entstehen kann. Theater selber ist aber ein Konstrukt, ist eine Welt in der Welt, wo Waffen nicht wirklich töten. Man trifft sich mit seinem Publikum an einem geschützten Ort, wo man im Scheinwerferlicht alles offenlegen kann, ganz ohne Angst und Scham. Und das Publikum spielt mit, indem es das Gezeigte für wahr nimmt, aber gleichzeitig weiß, dass es im Theater sitzt. Diese doppelte Haltung ist das stille Einverständnis, der große Spielraum, darin hat dann alles, wirklich alles Platz. Emotionen werden auf beiden Seiten aktiviert, schwappen über. Gedanken werden in Gang gesetzt. Alle erleben den Abend individuell, und doch findet ein gemeinsames Erleben statt. Wer das einmal erlebt hat, wird wiederkommen und sich nicht davor fürchten, sich selbst im Theater begegnen zu müssen.

 

Theater ist also ein sehr ehrlicher Ort, denn hier waltet ein Schein, der nicht betrügt. Hier können auch alle Abgründe des Menschlichen ans Licht gebracht werden, das, was in der Gesellschaft nicht an die Oberfläche dringen will, was tief darunter liegt, aber unentwegt brodelt und daher meist verdrängt und als unsichtbares Gepäck mitgeschleppt wird.

 

Immer wieder wird gesagt, dass man sich in schweren Zeiten als Publikum gar nicht einlassen will auf ernste Themen. Was aber hat dieser Satz mit dem langen Bart auf sich? Warum hält er sich so zäh? Und wie kann man ihn ungültig machen? Bestimmt nicht mit einem Wellness-Programm zur Ablenkung. Nichts gegen zeitweise Ablenkung, und schon gar nichts gegen das Lachen. Das Lachen ist eine wichtige Kraft. Ungültig wird der elende Satz erst dann, wenn man dem Publikum das Gegenteil beweisen kann, wenn man es erleben lässt, dass Auseinandersetzung erfüllend ist und erleichternd. Dass es sogar ein ziemlicher Genuss sein kann, wenn man nicht davonläuft vor der Welt, sondern sich als Mensch unter Menschen wiederfindet, gestärkt, beseelt, aufgerüttelt und voller Gedanken über das Leben. Nicht alles kann man weglachen, vieles bleibt und braucht eine Umwandlung, eine Neubesinnung. Dafür kann das Theater viele Impulse geben, wenn es versucht, den Schein von draußen nicht zu wiederholen. Am Theater, wo alles vorkommt, wo uns nichts Menschliches fremd ist,  wo niemand Angst haben muss und es eine gespannte Aufmerksamkeit gibt, ist man nicht allein.

 

Warum soll  Kunst auch noch am äußeren Schein mitbauen? An der Scheinmoral, der Scheinberuhigung, den Scheinwahrheiten? Sie kann diese vielmehr stören und sogar zerstören, aber auf eine gute Weise. Und Kunst wird, weil sie ehrlich ist, manchmal auch verstören, auch und gerade in verstörenden Zeiten. Aber das zeigt nur, dass tatsächlich viel brodelt unter den Oberflächen und dass es wichtig bleibt, sich face to face zu begegnen. Das Aufeinanderprallen von Ansichten ist immerhin besser als das Schweigen und fairer als das Geifern aus dem Versteck. Wenn man seine anonymen Pfeile aus dem Versteck abschießt, mitten in das Herz jener, die mutig sind, sich vertrauensvoll öffnen, dann ist das ganze Elend unserer Welt in ein Bild gegossen, das schmerzhaft ist.

 

Die Angst, nicht zu gefallen, nicht genug Publikum zu bekommen, nicht ausreichend Eintrittskarten zu verkaufen, steht dem Theater, auch uns, leider sehr im Weg. Und gerade in Zeiten, wo das Theater schlechter geht, ist man daher verführt, gefälliger zu werden. Das ist wahrlich kein Vertrauensbeweis an die Aufnahmekraft des Publikums, und es ist ein Zwang, der unserer Kunst ebenfalls schadet. Denn gerade in schwieriger Zeit wird Kunst oft nicht gefallen, weil Künstler*innen sich auch nicht aus dieser schwierigen Zeit herausnehmen können oder wollen. Weil sie, im Gegenteil, ihre Fühler oft noch weiter ausstrecken müssen, um sie irgendwie fassen zu können.

 

Künstler*innen sind Menschen, die sich mitten in die Gesellschaft begeben und gleichzeitig auch abseits stehen, um beobachten zu können. Sensible Menschen, die sich ganz und gar einsetzen mit allem, was sie sind und haben. Die mit ihren ungenormten Instrumenten ins Ungewisse stechen, sich dem Augenblick öffnen, vielleicht Halt suchen und doch mitgerissen werden. Künstler*innen sind wie alle Menschen tief im unruhigen Strom der Zeit verhaftet und mit äußeren und inneren Widersprüchen konfrontiert.

 

Auch das Theater ist von seinem Wesen her unruhig und unberechenbar. Das deckt sich gerade sehr mit der Realität. Man weiß einfach nicht, wie es wird. Vielleicht war das der Fehler, den das Theater auch vor der Krise oft machte, nämlich seine Unberechenbarkeit wegkalkulieren. Es ist nur verständlich, sich aus seinen Gedanken ein schönes Haus bauen zu wollen, eine kleine heile Welt inmitten der großen oft unheilvollen, wie jetzt gerade. Aber Illusionen sind kein guter Baustoff. Wenn das Fundament fehlt und die Erde bebt, hilft alles nichts. Man muss schon tief graben, um sich gut zu verankern, und das kann Theater, auch wenn es einem etwas abverlangt. Aber es macht Sinn und ist das nicht auch eine große Sehnsucht der heutigen Zeit, aller Zeiten, das Gefühl zu haben, dass etwas Sinn macht? Und Kunst macht Sinn.

 

Kunst ist es auch, dem Publikum die Türen zwar weit zu öffnen, dabei aber gleichzeitig immer wieder neu zu überraschen und herauszufordern, auch Widerspruch zu ermöglichen. Man darf und muss keine Angst haben in der Kunst. Auch die Angst vor Verstörung des Publikums ist unangemessen. Wo sind die Zeiten, in denen man bewusst provozieren wollte und die Provokation dann aber nie stattfand? Stattdessen finden wir uns gerade in Zeiten wieder, wo die Gedankenpolizei wieder vermehrt auf Streife ist, vor allem zivil und oft anonym in den Internetforen. Und das ist deprimierend. Noch nie haben wir erlebt, dass sich Kunst plötzlich wieder so rechtfertigen muss, wie sie es jetzt gerade muss. Die Kunst als Welt in der Welt, gebend und nehmend, läuft sie Gefahr, unfreier zu werden?

 

Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, inwieweit wir unsere Freiheit in der Kunst auch selbst einschränken, wenn wir den unberechenbaren Moment weginszenieren, sodass er uns nicht zum Verhängnis werden kann hinsichtlich Kartenverkauf oder schlechter Nachrede. Ein Zuviel an Kalkül kann der Augenblickskunst des Theaters sehr zuwiderlaufen. Dabei ist gerade der Augenblick das große Versprechen des Theaters, wo man unmittelbar am Publikum andocken kann. Theater bleibt immer eine Augenblickskunst, auch wenn man Konzepte realisiert, auch wenn man vorher längere Zeit proben muss, um dann diesen ersten Moment auch bei jeder Vorstellung neu herstellen zu können.

 

Der erste Moment, damit ließe sich doch wieder eine Verbindung zum Publikum herstellen. Ihn zu erzeugen und zuzulassen, das könnte doch zu diesem gemeinsamen Erleben führen? Zu diesen kostbaren Momenten, in denen man mitgerissen wird und den Augenblick tief in sich verankert, sodass man ihn mit nach Hause nehmen kann. Wer das einmal erlebt hat, wird wiederkommen. Wie ein Junkie wird er nach solchen Momenten suchen und immer wieder ins Theater kommen, um sie sich zu holen. Hat das Theater solche Momente seinem Publikum nicht mehr gegönnt?

 

Viele Fragen tun sich auf, aber das einzige, was mit Sicherheit gesagt werden kann, ist, dass das Theater, dass die Kunst keine Sicherheitsstufen braucht. Man sollte für sie auch keine Regeln aufstellen. Kunst darf und muss sich auch weigern gegen Einmischung. Und Kunst soll mutig sein. Wenn sie kritisch und relevant sein will, was sie nicht muss, aber in heutiger Zeit aus guten Gründen oft ist, darf sie sich nicht einschränken lassen, auch nicht durch Selbstzensur. Sonst verliert sie einen ihrer vielen Sinne. Den Eigensinn, den Möglichkeitssinn, den Widerspruchsgeist etc. Wenn die Kunst sich Regeln unterwerfen muss, ist sie keine Kunst mehr, dann ist sie Teil des Systems, des Marktes.

 

Die drängendste Frage vieler Theater ist wahrscheinlich momentan die, wie man sein Publikum wieder zurückholen und neues gewinnen kann. Dafür muss man sich, wenn man sich nicht selbst betrügen will, auch die unangenehme Frage stellen, ob man sich vielleicht seine Türen auch selbst verschlossen hat. Und zwar schon lange vor Corona. Weil man nicht mehr auf die Urkräfte des Theaters vertraute und stattdessen Waren produzierte, einen rasenden Stillstand, der nun so richtig sichtbar wird, obwohl die Spielpläne überquellen, die Produktionsmaschine rollt und die Premieren sich stauen. Um sich gut zu verkaufen und das Restpublikum auf sich aufmerksam zu machen, muss auch die Werbemaschine wieder kräftig angeworfen werden, mit Werbesprüchen, menschlichen Zugpferden, ständigen Pressekonferenzen usw. Wir möchten da nicht mitmachen. Als kleines freies Theater müssen wir das auch nicht, sondern können uns auf unsere eigenen Stärken besinnen.

 

Wir haben bereits enorm viel durch die Krisenzeit gelernt und werden es weiterhin tun. Der lange Ausnahmezustand hat nicht nur bei uns im Kleinen die Schwachstellen aufgezeigt, die schon lange vor Corona existierten. Wenn wir nun nicht mehr so hyperaktiv produzieren und spielen, wenn wir nun viel achtsamer umgehen mit unseren Kräften, unseren knappen materiellen, aber immer noch sprudelnden ideellen Ressourcen, wenn wir unser Team und uns selbst nicht mehr so ausbrennen durch die Euphorie unseres Schaffens, wenn wir vielmehr die ganzen schlimmen Krisen auch als Chance sehen, dass alte Muster sich auflösen können, dann erst sind wir wirklich erfolgreich.

 

Es ist ein langer Weg, denn Sternschnuppen sind zwar ein wunderschönes Spektakel, werden aber der Größe des Universums nicht gerecht. Auch unser Bewusstsein ist eine große innere Welt, die nie stillsteht, die stets Neues aufnimmt und wieder hervorbringt. Und Bewusstsein schaffen, das kann Theater auf besonders gute Weise, und zum Nach- und Umdenken anregen, ganz ohne zu moralisieren und zu missionieren hoffentlich. Viel äußerer Druck ist es aber gerade, der die Menschen zurzeit zum Umdenken zwingt, was dann oft mit dem Gefühl einhergeht, hilflos zu sein, Verluste zu erleiden, Liebgewordenes plötzlich entbehren zu müssen. Und all das wegen dem Wahnsinn eines machtbewussten Diktators oder dem Treiben eines unsichtbaren Virus, das nicht weiß, was es anrichtet, weil es kein Bewusstsein hat. Wie wir mit all den Tragödien umgehen, ihnen begegnen, das ist die große Herausforderung. Und der Zerstörung noch weitere Zerstörung hinzufügen, das will doch keiner mehr. Aber wir alle können, jede und jeder in seinem kleinen Wirkungskreis, dazu beitragen, die Abwärtsspiralen zu stoppen. Dazu müssen wir aber vertraute Muster auflösen, bequeme Gewohnheiten ablegen und furchtlos sein.

 

Wie überall in dieser großen Krisen- und Umbruchzeit kann auch das Theater gerade jetzt alte und untauglich gewordene Muster aufbrechen, um diesen gefährlichen rasenden Stillstand zu stoppen, der sich überall umtut und der die Menschen vom Eigentlichen entfernt. Als Mikrokosmos im großen Transformationsgeschehen ist auch das Theater keine Insel, sondern im Gegenteil, ein Ort, an dem die Veränderungen innerhalb der Gesellschaft leidenschaftlich verhandelt und zur Diskussion gestellt werden können. Sich weiterhin mit der faszinierenden Kraft der Kunst dem Leben widmen, ja stellen zu können, wirkungsvoll, gemeinsam mit viel offenem, freudigem Publikum, das wäre schön!

Das wäre schön!

MILENA IN PRAG

Essay von Cornelia Metschitzer über Milena Jesenská (und über ihre beiden Stücke über deren Leben und Zeit), 11.09.2022

Aber die Sonne scheint jeden Frühling auf eine Wiese voller Blumen; und wenn das die einzige Sicherheit auf der Welt ist, will ich mich daran klammern.

Milena

 

DAS IST DAS LEBEN ist unser zweites Stück über die Journalistin und Widerstandskämpferin Milena Jesenská, die 1896 als großbürgerliche Tochter in Prag geboren wurde und 1944 im KZ Ravensbrück starb. Nach dem frühen Tod der Mutter, die sie fürsorglich pflegte, wurde Milena ein „Bürgerschreck“ und ganz Prag zerriss sich über sie das Maul. Milenas Freigeist und Widerspruchskraft wurden im Mädchengymnasium Minerva mitgeformt und das Leben mit ihrem liebenden und strafenden Vater gestaltete sich von Beginn an schwierig.

Im ersten Stück unserer Frauenbiografie VOR DEM FENSTER LIEGT DIE WELT haben wir Milena in ihren ganz jungen Jahren und in ihrer Beziehung zu Kafka gezeigt und eine Ahnung davon gegeben, wie sie die menschenzugetane und impulsive Persönlichkeit wurde, die danach unerschrocken und mit großem Mitgefühl ihr Schreiben und Handeln in den Dienst der Gesellschaft stellte. Nun, im zweiten Teil, widmen wir uns Milenas verbleibenden zwei Lebensjahrzehnten zwischen 1924 und 1944.

 

ZUM INHALT DES STÜCKS

Nach Kafkas Tod und ihrer Scheidung von Polak ist sie aus dem dumpfen Wien in ihre geliebte Geburtsstadt Prag zurückgekehrt. Diese erblüht gerade neu und ist nun das Zentrum der ersten tschechoslowakischen Republik nach 300 Jahren Habsburgerherrschaft. Eine große Aufbruchsstimmung hängt in der Luft. Und auch Milena versucht, sich von alten Mustern und Abhängigkeiten zu befreien und in dieser neuen Zeit neu zu leben beginnen.

Als Idealistin möchte sie auch mitbauen am Traum der europäischen Avantgarde, den technischen Fortschritt mit Humanität zu versöhnen und die Emanzipation der Frauen voranzutreiben. Schon als beliebte Modejournalistin der konservativen Tageszeitung Národní Listy richtet sie daher ihren Blick unter alle Oberflächen, wird aber fallengelassen, als sich empörte Leserbriefe häufen. Auch privat hat sich ihr unheimliches Glück bald verflüchtigt. Sie bekommt zwar mit Honza (eigentlich Jana) das Kind, das sie sich immer gewünscht hat, aber gleichzeitig erkrankt sie schwer und wird Morphium abhängig. Jaromir Krejcar, ihr zweiter Ehemann, fühlt sich der familiären Situation nicht gewachsen und geht in die Sowjetunion, von wo er mit einer anderen Frau wieder zurückkommt.

Um in dieser großen privaten Krise Halt und Zugehörigkeit zu finden und dabei auch etwas Nützliches für die Welt zu tun, schließt sich Milena der Kommunistischen Partei ihres Landes an. Diese hat sich zwar auf den harten Moskauer Kurs eingeschwenkt, aber Milena glaubt weiter an die romantische Idee des Sozialismus und an sein großes Versprechen einer menschenwürdigen, gerechten Gesellschaft ohne Herrschaft und Ausbeutung. Aus Solidarität will sie sich nun verstärkt um die drängenden sozialen Anliegen der Arbeiterschaft kümmern, und in den Parteiblättern hat sie dazu die Gelegenheit. Dass sich ihr öffentliches Schreiben dabei immer mehr in ideologischen Phrasen verliert, nimmt Milena zunächst noch in Kauf. Als die Parteidisziplin aber von ihr verlangt, sich von ihrem neuen Lebensgefährten Evžen Klinger zu trennen, will sie sich nicht länger unterwerfen. Sie ohrfeigt ihren Chefredakteur und ist damit bei allen Parteiblättern untendurch. Bittere Armut und soziale Isolation zwingen sie daraufhin, Bettelbriefe an lose Bekannte zu schreiben, doch ihren reichen, aber strengen Vater möchte sie auch nicht um Hilfe bitten.

1937 wendet sich Milenas Leben dann unerwartet wieder zum Besseren. Nachdem 1933 mit Hitler das Unheil erneut über Europa hereingebrochen ist, wird sie von ihrem früheren journalistischen Weggefährten Ferdinand Peroutka in dessen renommiertes demokratisch-liberales Wochenblatt Prítomnost geholt. Dort bekommt sie Gelegenheit, ihr großes Talent in der politischen Analyse unter Beweis zu stellen. Als Reporterin reist Milena mehrmals in die brodelnden Sudetengebiete und berichtet über die tiefe Kluft zwischen den einzelnen Volksgruppen, das Schicksal deutscher Emigranten und Henleins Produktion von „Kindernazis“, die ihre Eltern bespitzeln. Dabei schafft sie es, die verängstigten Menschen zum Reden zu bringen, ohne ihre Erzählungen auszubeuten. Sie gewinnt neue Anerkennung bei ihrem Lesepublikum und wieder festen Boden unter den Füßen, auch wenn das ganze Schiff arg zu schwanken begonnen hat.

1938/39 nämlich haben zwei einschneidende Ereignisse die Tschechoslowakei in tiefste Verzweiflung gestürzt: das Münchner Abkommen, das die Abtretung der Sudetengebiete erzwingt sowie die sechs Monate später folgende Invasion von Nazi-Deutschland in die „Rest-Tschechei“. Die Stimmungsbilder, die Milena auf den Straßen und Plätzen auffängt, als die Westmächte ihr Land einem faulen Frieden in Europa opfern, sind bis heute ein unsagbar berührendes Dokument der Geschichte.

Und auch Milenas eigene Geschichte verstrickt sich mit dem Unheil ihrer Zeit immer mehr, denn ihr journalistisches und zivilgesellschaftliches Engagement wird für sie immer gefährlicher. Als sie es dem deutschen Zensor zu weit treibt, erhält sie Schreibverbot, geht in den Widerstand, verteilt weiterhin Hoffnung und Zuversicht an die Verzweifelten sowie illegale Zeitungen, an denen sie persönlich mitschreibt. Sie versteckt und verpflegt unzählige verfolgte Menschen in ihrer kleinen Wohnung und hilft den Flüchtenden, der „Mausefalle“ Prag zu entkommen. Gleichzeitig warnt sie davor, alle Deutschen als Feinde zu verteufeln.

ÜBER MILENA

Milena, die keine Moralistin war, sondern immer den ganzen Menschen in all seiner Widersprüchlichkeit sah, half bedingungslos allen, die ihre Hilfe brauchten. Über alle unterschiedlichen Ideologien oder persönliche Kränkungen hinweg. Extreme und dramatische Situationen hatten in ihr immer schon Kräfte aktiviert, mit denen sie sich selbst und andere Menschen retten konnte. Ihr Bemühen um eine gerechtere Welt, ihre Menschenliebe, ihren Lebensmut, ihren Wunsch nach sinnvoller Tätigkeit, das alles lebte sie tatsächlich bis zum letzten Augenblick. Ihre besondere Eigenschaft, gewisse äußere Regeln einfach nicht zu akzeptieren, wenn sie ihrem innersten Wesen widersprachen, wurde ihr in ihrer Jugend in der Psychiatrie als „moralischer Irrsinn“ ausgelegt. Diese Unerschrockenheit des Herzens hatte ihr unter dem Fremdregime der Nazis eine Anklage wegen Hochverrats eingebracht, von der man sie zwar mangels Beweisen freisprach, nicht aber freiließ. Sie wurde in „Schutzhaft“ genommen, musste sich von ihrer Familie verabschieden und wurde schließlich deportiert. Alle Versuche, sie doch noch freizubekommen, scheiterten und Milena starb mit 47 Jahren nach einer Nierenoperation im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Aber noch an diesem schrecklichsten aller Orte konnte sie auf der Krankenstation, wo sie arbeitete, viel Gutes bewirken. Die Unerschrockenheit ihres Herzens blieb auch dort noch stärker als ihre Angst vor Bestrafung und Tod. Ein letztes Mal wuchs sie über sich hinaus und tat, was sie eben tun musste.

Es ist nicht wahr, dass man für eine Idee stirbt; in den Tiefen der Seele stirbt man nur für das eigene Herz. Das Geheimnis eines solchen Herzens weckt furchtbare Ahnungen in uns, die Ahnungen eines Vogels, der in einem Käfig eingesperrt ist.

Acht Jahre nach Milenas Tod 1944, im Jahr 1952, gab Willy Haas Kafkas „Briefe an Milena“ heraus, eine literarische Sensation. Als innige Briefgefährtin des später weltberühmten Schriftstellers erlangte Milena damit zunächst in der Literaturwelt einige Bekanntheit. Ihr engagiertes und bewegtes Leben abseits von Kafka, den sie immer Frank nannte, findet aber bis heute nicht die Beachtung, die es verdient.

Milena hatte Kafkas Briefe viele Jahre gehütet wie einen Schatz und sie dann Willy Haas persönlich übergeben, nachdem sie sich vor den Nazis nicht mehr sicher fühlen konnte. Ihre eigenen Briefe an Frank sind hingegen bis heute verschollen und so gibt die Beziehung von Milena und Kafka bis heute Rätsel auf. Der erste Teil unseres Bühnenzweiteilers über Milena „Vor dem Fenster liegt die Welt“ widmet sich intensiv der tiefen seelischen Beziehung der beiden und entwirft die These, wonach Kafka für Milena die Initialzündung dafür war, sich von seinen und ihren Ängsten und Sehnsüchten zu befreien und ein tätiges Leben in der Gemeinschaft zu riskieren.

Ich gehe und verspreche mir keinen Sieg. Ich wüsste nicht, worüber ich siegen könnte. Mut wird belohnt und Mut wird bestraft. Alles ist zweischneidig, für alles muss man zahlen. Und an beiden Ufern wird man stets das Geschehene bereuen. Das alles weiß ich.

Während Milena bei uns immer noch zu sehr in Kafkas Schatten steht, wurde sie in der Tschechoslowakei seit 1948 auch viele Jahre nach ihrem Tod noch zusätzlich totgeschwiegen, da sie eine Kritikerin der kommunistischen Einengung war. Erst 1966 brachte der Literaturwissenschaftler Eduard Goldstücker ihren Namen in ihrem Heimatland erneut ins Gespräch. Er begann, sie vom Stigma der Verräterin zu befreien und sie aus dem Schatten von Kafka zu lösen. Seither gibt es immer mehr vor allem Wissenschaftlerinnen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Milena Jesenskás bewegtes Leben zu recherchieren, es der Welt weiterzuerzählen und ihr kostbares publizistisches Werk zu sammeln und zu sichern.

Denn Milena hat der Nachwelt ein umfangreiches journalistisches und essayistisches Werk hinterlassen, das nicht nur ein wichtiges faktisches und atmosphärisches Zeitzeugnis der Zwischenkriegszeit darstellt, sondern auch Aufschlüsse über unsere heutige Zeit geben kann. Da Milena durch ihren schreibenden Beruf sehr in ihrer Zeit und den Geschehnissen verhaftet war, sich als wacher Geist und mitfühlender Mensch selbst nicht aus ihrem Schreiben herausnahm und deshalb auch viel persönliche Haltung in ihre Beobachtungen, Reflexionen und Analysen legte, geben ihre Texte auch sehr viel Aufschluss über sie selbst. Es war immer Milenas große Stärke, sich mit ihren Themen ganz zu identifizieren und damit erlangte sie diese große Glaubwürdigkeit, für die sie einerseits von vielen geschätzt wurde, mit der sie sich aber auch immer wieder angreifbar machte.

Dabei war Milena eine Querdenkerin noch im guten alten Sinn, weil sie unbequeme Wahrheiten aussprach, auch wenn man sie nicht wissen wollte. Weil sie konstruktive Dialoge anzettelte, welche die ideelle Kluft zwischen den Menschen überbrücken konnten und die Gesellschaft nicht noch weiter spalten sollten. Und stets stand unter ihrem Geschriebenen auch ihr Name oder ihr bekanntes Kürzel. Tappte sie auf Irrwegen, stand sie auch dazu und hatte keine Scham, sich selbst zu korrigieren und Fehler einzugestehen, was heute nur noch ganz selten vorkommt. Nie wollte sie sich in ihrem Beruf profilieren auf Kosten anderer, nie wollte sie irgendeinen anderen Profit daraus schlagen, als der Wahrheit möglichst nahe zu kommen.

Es ging Milena also nicht um Bekanntheit oder Geld, sondern um die Wahrheit, die sie trotz allem suchte, auch wenn sie wusste, dass sie schwer zu finden war und wenn, dann meist nur im Plural. In turbulenten Zeiten gesicherte Erkenntnisse vermitteln zu wollen, ist ein nahezu unmögliches Unterfangen, da diese gleich wieder von aktuellen Entwicklungen überholt werden. Milena war sich der großen Verantwortung bewusst, in politisch und sozial heftigen Zeiten eine Redakteurin und Meinungsbildnerin zu sein. Ihr politisches und gesellschaftspolitisches Schreiben war geprägt von einem aufklärerischen und emanzipatorischen Anspruch und so versuchte sie hinter den wechselnden Erscheinungen, unter den schlagenden Wellen der Ereignisse, auch das sichtbar zu machen und zu propagieren, was stets unverhandelbar bleiben sollte, den Humanismus und die Menschenwürde.

Vor euch steht ein Mensch in einem Hemd und mit leeren Händen. Er ist gesund, darf nicht arbeiten und muss essen. Arbeiterfamilien haben sich dieser Menschen angenommen. Geld konnte ihnen niemand geben, aber der eine gab Kornkaffee, der zweite die Reste des Mittagessens, der dritte ein Dach überm Kopf. Wohltätigkeit ist eine Quelle, die langsam versiegt. Und vier Jahre Emigration sind nicht nur Entbehrung, Hunger, Not, Verlassenheit, Einsamkeit, Sehnsucht nach der Heimat und erzwungenes Bettlertum, vier Jahre Emigration sind auch ein schrecklicher, unerträglicher Seelenzustand. Die jungen Menschen verlieren die Möglichkeit zu arbeiten, sich auszubilden, sich weiterzuentwickeln. Sie hängen im luftleeren Raum, verlieren den Sinn fürs Leben. Nicht nur der Hunger entkräftet, auch das erschöpfende, aufreibende Warten.

 

Milena vermochte es, an das Mitgefühl ihrer Leserinnen und Leser zu appellieren und dabei ein Oben und Unten zu vermeiden. Sie ging immer offen und ehrlich auf alle Menschen zu und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, für irgendeine Quote deren Leid auszuschlachten. Politische Korrektheit war für sie eine Sache der Intuition und des Hausverstandes, keine theoretische Konstruktion, die gern an Lebenswirklichkeiten vorbeigeht oder zu neuem Dogmatismus oder Intoleranz führt. Milena haute freilich auch manchmal daneben in ihrem Enthusiasmus und in ihren Schlussfolgerungen, aber das ist oft so, wenn man sich besonders engagiert und weiter hinauswagt als andere. Meist aber hatte sie das richtige Gespür, weil sie sich einlassen konnte auf die Menschen und ihre Themen. Sie hatte auch die bezaubernde Eigenschaft, ihr Lesepublikum persönlich anzusprechen.

Menschen leben zusammen, um einen Freund zu haben. Um jemanden zu haben, bei dem sie von Strafe, Rache, schlechter Meinung, Ungerechtigkeit, bösem Gewissen verschont bleiben. Oder glaubt ihr wirklich, ein Heim sei etwas anderes und habe andere Aufgaben, als den Menschen zu schonen, zu schonen und nochmals zu schonen, vor der Welt und hauptsächlich vor dem inneren Spiegel seiner Selbst?

Es ist ein Kniff, den man auch aus dem frühen Kino kennt, wo die Schauspieler*innen auch oft in die Kamera schauen, um dem unsichtbaren Publikum verschwörerische Blicke zuzuwerfen und sich mit ihnen zu verbünden. Und Milena war eine leidenschaftliche Kinogängerin, was sie übrigens mit Kafka teilte. Milenas subjektiv gefärbtes Schreiben richtete sich also immer an ein Gegenüber und kreiste nicht um eigene Eitelkeiten oder Selbstdarstellung. Aber es zeigte immer eine persönliche Haltung und Anteilnahme. Milena konnte auch ihre tiefe Betroffenheit offenbaren, wenn sie etwas besonders berührte oder ärgerte und außerdem verstand sie perfekt ihr Handwerk, exakt zu recherchieren, die richtigen Fragen zu stellen und klar und verständlich zu formulieren. 

 

Die Kinder lauschen zu Hause hinter der Tür und geben dann in der Schule alles wieder, was sie aufgeschnappt haben. Der gewiefteste Geheimdienstler könnte jemandem nicht so viele Einzelheiten entlocken, wie es diesen armen, kleinen, krummen Geschöpfen gelingt. Die Geheimnisse eines jeden Haushalts liegen offen vor dem Lehrer ausgebreitet, und die Eltern fürchten sich nicht nur vor ihren Arbeitgebern, Nachbarn und Verwandten – sondern sogar vor den eigenen Kindern.

 

Trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit unternahm Milena mühselige Reportage-Reisen in die Sudetengebiete und beobachtete dabei sehr genau, wie sich die politischen Geschicke auf die privaten der Menschen auswirkten. Auch wollte sie ihren Leserinnen und Lesern unermüdlich ins Bewusstsein rufen, dass sie den hereinbrechenden Wellen der schlimmen Ereignisse nicht nur schutzlos ausgeliefert wären, sondern auch selbst dazu beitragen können, diese Wellen zu brechen. Dass es dabei auf jeden einzelnen ankommt und man füreinander Verantwortung übernehmen muss, dafür stand Milena nicht nur in ihrem Schreiben und Denken, sondern auch in ihrem ganzen beherzten Handeln.

Aber vor allem müssen wir uns über etwas anderes im Klaren sein: darüber, was wir selbst tun werden. Nicht im internationalen, sondern im privaten Maßstab mit dem Radius von dreieinhalb Straßen, dem Nachhauseweg und einer Zweizimmerwohnung mit Küche. Wir müssen wissen, was wir gerade auf dem Stück Erde, auf dem wir leben, und an dem Platz, an dem wir arbeiten, tun werden.

 

Aber beherzt Verantwortung übernehmen, das muss man nicht nur wollen, sondern auch können, weil Verantwortung uns in den guten Zeiten meist abgenommen wird. Auch bedarf es dazu - besonders in Diktaturen, aber auch im Kontext von anderen Drucksituationen - einem gewissen Quantum an Mut und Furchtlosigkeit. Mit Ängsten umzugehen ist eine Lebenskunst, die wir oft nicht gelernt oder aktiviert haben, und wenn uns die Angst oder Furcht in widrigen Zeiten dann plötzlich überfällt, können wir oft schwer damit umgehen. Angst ist lähmend und macht einsam, sagte schon Milena und stürzte sich unter die Menschen, um Zuversicht und Hoffnung zu verteilen, auch Güter und Geld, wenn sie selbst gerade was hatte. Gleichzeitig wusste sie aber, dass man sich im Grunde auch selbst helfen muss, um Hilfe zu erfahren. Und so scheute Milena auch nicht davor zurück, bei fremden Menschen um Hilfe zu betteln, wenn sie sie selber gerade nötig hatte. Hilfe geben und Hilfe annehmen, gegenseitige Solidarität, war für sie selbstverständlich und das hat weniger mit dem Menschen selbst zu tun, als mit der jeweiligen Situation, in die er sich gerade geworfen findet. Ob diese Situation nun selbst verschuldet ist oder nicht, das war für Milena keine Kategorie. Sie half allen, weil sie eben keine Moralistin war und die Achtung der Menschenwürde etwas ganz und gar Selbstverständliches sein sollte. Weil der Mensch auch in seiner Hilflosigkeit seine Würde behält. Weil Menschenwürde eigentlich nicht verliehen oder geraubt werden kann, weil sie einfach gegeben ist mit dem Menschsein, weil es schlicht unmenschlich ist, sie in Frage zu stellen.

Am Schluss ihres Lebens, schwerkrank im KZ, hat sie sich mit ihrer unbeugsamen Haltung ihre eigene Menschenwürde und innere Freiheit bewahren und etwas davon auch noch an ihre Mithäftlinge abgeben können. Aufrecht stehen und helfen, das war eben Milenas Prinzip.

Ich stand in einer Gruppe tschechischer Zugänge draußen vor dem Krankenrevier. Wir waren zur Aufnahmeuntersuchung dorthin dirigiert worden. Niedergedrückt und verstört durch die ersten schrecklichen Eindrücke bei der Ankunft im Lager, erwarteten wir nun voller Angst die nächste Tortur. Da tritt Milena aus der Tür, bleibt auf der Treppe stehen, lächelt uns zu und ruft mit einladender Handbewegung: „Seid mir willkommen, Mädels!“ Es kam so ganz von Herzen, als ob sie jeden einzelnen von uns in ihr Haus einlud. Ich konnte es gar nicht fassen. Es war das erste wirklich Menschliche inmitten all der Unmenschlichkeit.

Mithäftling Anna Kvapilová über Milena im KZ Ravensbrück

 

Im Mut haben und Mut machen ließe sich also auch heute noch ganz viel von dieser Frau lernen bzw. kann Milena auch uns Heutigen noch etwas von ihrem Lebensmut abgeben. Darum habe ich viele O-Töne aus ausgewählten Quellen ihres privaten und öffentlichen Schreibens in unseren Stückzweiteiler hineinmontiert und manchmal erscheint es jetzt fast so, als würde Milena darin wie eine Zeitgenossin zu uns sprechen. Sie kann uns in der Tat auch heute noch helfen, wie wir mit Krisen leben, welchen Sinn wir daraus ziehen können und dass es immer wichtig bleibt, ehrlich, auch ohne Selbstbetrug, die Karten auf den Tisch zu legen, weil nur so Lösungen möglich werden.

Die Zeit, in der Milena lebte, war geprägt von großen Krisen, zwei Weltkriegen und der Transformation Europas. Auch wenn von den Voraussetzungen her kaum vergleichbar, so ist sie doch unserer heutigen nicht unähnlich, die wieder so beunruhigend instabil geworden ist, mitunter auch katastrophal und voll von Ängsten, Sorgen und Nöten, die tief im Innersten der Menschen weiterkreisen und ziemlich mutlos machen können. Diese Angst zu durchbrechen, die so vielen Phänomenen zugrunde liegt und die Menschen so aus der Bahn werfen und entzweien kann, schien Milenas großes Geschick gewesen zu sein.

Auch Gefühle können als reale Bestandteile der Welt gesehen werden, da sie manchmal so übermächtig werden, dass sie in unsere Lebenswirklichkeit massiv eingreifen und diese beeinflussen. Heute haben auch wir wieder viele berechtigte Ängste, auch viele irrationale, die zumeist aus einer inneren Verzweiflung und Unsicherheit kommen. Es ist leider gerade in Krisenzeiten oft der Fall, dass diese Gefühle dann von nicht sehr wohlmeinenden Kräften weiter angestachelt, ausgebeutet und für deren eigenen Nutzen missbraucht werden. Auch gute Begriffe werden vereinnahmt und grotesk umgewertet. Missverständnisse, Misstrauen, Vorurteile mehren sich. Man findet noch weniger Halt und Orientierung und sich womöglich in einer ideologischen Reihe wieder, in die man nie hinein wollte.

Diese destruktiven, manipulativen Kräfte sind nicht zu unterschätzen, da sie die Wirklichkeit verzerren und noch mehr Keile in die Gesellschaft treiben. Dabei wären Fantasie und Imagination doch etwas Gutes und Heilsames, da sie in der ganzen Ambivalenz des Menschen immer auch die innere, nicht rationale Seite verkörpern, die ebenso wichtig ist wie Verstand und Vernunft, um ein ganzer Mensch sein zu können.

Milena hatte auch eine große Fantasie und Imaginationskraft. Ihre Empathie und Tatkraft wäre nicht möglich gewesen, wenn sie nicht auch die Abgründe des Menschlichen inhaliert gehabt hätte, was auch aus ihren tiefen Lektüren von so abgründigen Dichtern wie Kafka, Dostojewski, Kierkegaard oder Nietzsche kam. Als radikale Nachzüglerin der Romantik war Milena stets eine Grenzgängerin, enthusiastisch, unbändig, liebend, exzessiv und abgrundtief offen. Und obwohl sie sicherlich auch ihre eigenen Widersprüche grundsätzlich akzeptierte, musste sie doch auch ein Gegengewicht finden dazu und ihre romantisch dunkle Seele von Zeit zu Zeit etwas hintanhalten, um bestehen zu können. Man muss einfach auch wieder runterkommen von seinen Sehnsüchten, Träumen und Ideen, von denen man ahnt, wohin sie einen führen können, in den schlechten Irrationalismus, in Größenwahn und Totalität oder aber in Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Angst.

 

Auch Milena, die sich nie für abgeschlossen hielt, sondern immer auf dem Weg wähnte, hatte also lernen müssen, ihre Fantasien und Sehnsüchte immer wieder zu zügeln, um nicht ganz den Boden unter den Füßen zu verlieren. Manchmal aber kultivierte sie ihre imaginären Kräfte auch ganz bewusst (oder unbewusst?), um aus der Tiefe ihres seelischen Fundaments wieder Mut und Tatkraft zu schöpfen für ihre vielen Hilfsaktionen und für ihr gesellschaftliches Engagement. Milena scheint wirklich eine große Meisterin der Alchimie und der Sublimierung gewesen zu sein, jedenfalls ist das auch eine These meines Stückes, die ich aus Passagen ihres Briefwechsels mit ihrem Seelenverwandten Willi Schlamm herauszulesen meinte. In ihrer berührenden Korrespondenz mit ihm ab 1938, als er ins Exil gehen musste, fühlt man sich an ihre imaginäre Liebe zu Franz Kafka erinnert.

 

Manchmal geschehen solche merkwürdigen Wunder, dass ich jemandem begegne, dem ich nicht fremd bin: und immer endet es so, dass die Wirklichkeit ihn mir entreißt. Ich saß neben Kafka, als er in Wien im Sterben lag, ich stand an Brunners kleinem Sarg, als er mir starb. Und ich stand in Nemecký Brod auf dem Bahnhof und ließ zu, dass der Zug mit dir abfuhr, Willi. Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie weh es tut. Es hört nicht eine Minute auf, du kannst nirgendwohin davonlaufen, musst es jede Sekunde aushalten, und es tut immer weh.

 

Der Verlust von Willi tat Milena so weh, dass sie daran fast verzweifelte, dann aber passierte der Moment, wo sie diese Verzweiflung in positive Energie verwandeln konnte. Ihren tiefen Schmerz, ihre ganze Sehnsucht transformierte sie in eine große innere Stärke. Das eigene Leid konnte ihre große Gabe des Mitgefühls noch einmal verstärken und sie wuchs über sich hinaus.

 

Ihre Tage waren nun angefüllt mit fiebriger Tätigkeit und Sorge, und alle durften sie ihre Aufmerksamkeit erwarten. Wie sie es schaffte, mitzufühlen ohne zu verletzen. Noch in der Nacht, schon am Rande ihrer Kräfte, nahm sie das Telefon zur Hand und rief dort an, wo sie Niedergeschlagenheit erahnte, und dann hörte sie zu und reichte Trost und Aufmunterung in die Dunkelheit. Als ob sie einen unerschöpflichen Vorrat an Kraft in sich hätte.

Lumír Čivrný

 

In der Mitte der 1920er-Jahre, nach Milenas seelischem Überflug mit Kafka, als er bald darauf starb und sie eine schmerzhafte Trennung von ihrem ersten Ehemann Ernst Polak vollzog, hatte Milena auch eine Unglückszeit, aus der sie gestärkt wieder hervorgehen konnte. Das kurze Glück, das sie erfuhr, als sie wieder nach Prag zurückgekehrt war, empfand sie aber als regelrecht unheimlich. Sie versuchte, den Augenblick festzuhalten, doch wie immer, wenn man sich an etwas klammert, flutscht es einem weg. Denn nichts steht still, nichts wiederholt sich, alles entwickelt sich ständig, und Milena beschwor diesen magischen Augenblick vielleicht gerade in diesem philosophischen Bewusstsein, dass alles in ständigem Werden und Vergehen begriffen ist. Aber in einem einzigen Augenblick kann man die Zeit so ausdehnen, dass darin Sinn Platz finden kann und Erkenntnisse möglich werden.

Wir kochen Tee und meinen, das sei nur ein Zwischenspiel zwischen etwas, was war und was sein wird. In Wahrheit ist es nicht so, sondern das ist das Leben. Denke einzig und allein daran, erfasse es gänzlich, vergiss alles andere, sei weder traurig noch fröhlich, auch nicht glücklich oder sehnsüchtig, das ist alles Unsinn, sei jetzt gegenwärtig und sei fähig, mein Gott, sei fähig, nur diese Stunde zu sehen und alles auszukosten, was sie in sich birgt. Sei fähig, die Kette aus Angst, Unsicherheit, Schmerz, Unzufriedenheit und Sehnsucht zu zerreißen, ganz einfach: sei.

 

Speziell auf dem Theater lassen sich mit den verdichtenden Mitteln der Kunst und mit Menschendarstellung solche innigen Momente, wie Milena sie hier beschrieben und wohl auch selbst erlebt hatte, nachempfinden. Theater kann auch einen umfassenden Eindruck von einem ganzen Menschenleben geben, es durch die Montage des gewählten Materials in seiner geschichtlichen Gewordenheit lebendig nachzeichnen. Deshalb ist DAS IST DAS LEBEN wie bereits das Vorgängerstück VOR DEM FENSTER LIEGT DIE WELT wieder mit allen Mitteln der Kunst, aber auch mit vielen Doku-Quellen gestaltet. Zu erwarten ist wieder ein vielschichtiges Mischgewebe mit über Ton eingespielten Erzähltexten über stummen Handlungsverläufen, live gespielten und gesprochenen Dialogen, Milenas Zeitungsberichten, Briefauszügen sowie Musik- und Bildeinspielungen. Eine biografische Annäherung, die auf essayistische Weise auch wieder einen subjektiven Blick von mir als Autorin und Regisseurin vermitteln wird. Dabei wird auch die dramatische Geschichte der Tschechoslowakei und Europas in der Zwischenkriegszeit des vorangegangenen Jahrhunderts wieder lebendig.

 

Wie sehr das politische mit dem privaten Schicksal stets verstrickt bleibt, hat Milena immer wieder betont und auch auf tragische Weise am eigenen Leib und in der eigenen Seele erfahren. Der übermächtigen Nazi-Propagandamaschine setzte sie mit großer Hingabe ihr mutiges und aufrichtiges Schreiben gegenüber. Noch mutiger war ihr resolutes und geistesgegenwärtiges Handeln, wenn es darum ging, möglichst lange möglichst viele Menschenleben zu retten.

Milenas großes zivilgesellschaftliches Engagement, ihre bedingungslose Hilfsbereitschaft, ihr leidenschaftlicher Einsatz gegen politischen Terror und für die liberale Demokratie, ihre große Lebenskunst, mit der sie so viele auch persönliche Krisen meistern konnte, ihr Glaube an ein geeintes Europa sowie ihre Überzeugung, dass man die Welt nicht in Schwarz und Weiß und die Menschen nicht in Gut und Böse einteilen soll, sondern stets tief unter alle Oberflächen schauen muss, das alles und noch viel mehr kann uns Milena auch heute noch zu einem großen Vorbild machen. Denn unsere Welt, unsere Zeit, wir alle brauchen immer mutige Stimmen mit Geist und Seele, die unvoreingenommen sind und uns in klaren, aufrichtigen Worten, konstruktiv und nicht von Eigeninteressen gelenkt, die Widersprüche und Zusammenhänge des Lebens nahebringen können, und das, ohne zu belehren, zu moralisieren oder zu missionieren. Und Milena Jesenská war so ein Mensch.

Milena in Prag

MILENA IN WIEN

Cornelia Metschitzer, 18.04.2022

Das erste Stück unseres Bühnen-Zweiteilers über die Prager Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin Milena Jesenská beginnt im Jahr 1921 in Wien, als sie dort an ihrem Artikel FENSTER schreibt, und endet 1924, wenn sie auf Franz Kafka, ihren geliebten Gefährten, einen Nachruf verfassen muss. Wir sehen, wie sich in Wien aus dem einstigen „Prager Bürgerschreck“ eine hoch talentierte und sensible Journalistin entwickelt, aus einer radikalen Nachzüglerin der Romantik eine tatkräftige und nach Unabhängigkeit strebende Frau.

 

Milenas Elternhaus in Prag

1896 in ein reiches, aber trauriges Prager Elternhaus geboren und 1944 im KZ Ravensbrück nach einer Nierenoperation gestorben, rebellierte Milena nach dem frühen Tod der Mutter, die sie fürsorglich pflegte, wild gegen den bürgerlich-konservativen Vater, zu dem sie zeitlebens ein ambivalentes Verhältnis hatte. Der bekannte Zahnarzt und Universitätsprofessor wollte die Tochter in seine Fußstapfen drängen, sie durfte das fortschrittliche Mädchengymnasium Minerva besuchen und begann danach ein Medizinstudium. Sie brach es ab und warf sich in die Prager Künstlerszene. Dort verteilte sie Papas Geld, seine Wäsche und sein Essen an arme Schlucker, stahl allerorts, experimentierte mit Drogen und machte ständig Schulden, um zu helfen und zu geben.

 

Als Jan Jesenský seine Tochter daraufhin ein dreiviertel Jahr lang in eine psychiatrische Anstalt stecken ließ, weil sie zu allem Überdruss auch noch den „falschen Mann“ heiraten wollte, attestierte man ihr dort u.a. „moralischen Irrsinn“. Erst bei ihrer Volljährigkeit entlassen, heiratete Milena ihren jüdischen Kaffeehausliteraten Ernst Polak dann doch und floh mit ihm nach Wien.

 

Ihre Wiener Zeit (1918-1924)

Dort, im darbenden Rest-Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, beginnen wir unser Stück VOR DEM FENSTER LIEGT DIE WELT und erzählen in Vor- und Rückblenden Milenas Geschichte. Der Titel ist ein Zitat aus ihrem Zeitungsessay FENSTER, denn wenn Milena in Wien vor ihrem Fenster stand, sah sie etwas, was man mit den Augen allein gar nicht sehen kann: Die Welt. Vor dem Fenster liegt die Welt, vor der Tür aber liegt nur die Wirklichkeit, schrieb sie. Eine entzauberte Welt ohne Wunder, eine mechanische Welt, die nur nach dem Realitätsprinzip funktioniert, sie war ihr zu wenig.

 

Milenas Wien-Zeit, sie war in ihrer mühsamen Realität nach dem Krieg herausfordernd und schwer. Weil sich ihr Ehemann zu wenig um sie sorgte, musste die großbürgerliche Tochter am Bahnhof Koffer schleppen, Tschechisch-Unterricht geben und sich als Haushälterin verdingen, um über die Runden zu kommen. Aber sie begann auch Bücher zu übersetzen und übertrug als erste Übersetzerin Franz Kafka ins Tschechische, seine Erzählung „Der Heizer“, die in einer Literaturzeitschrift erschien. Ein intensiver Briefwechsel mit dem später weltbekannten Dichter entspann sich, und auch Milenas eigene schriftstellerische Laufbahn als Feuilletonistin und Journalistin begann.

 

Ihre Anfänge als Journalistin

Ab Dezember 1919 schickte Milena als Wien-Korrespondentin zunächst der kleinen liberalen Zeitung Tribuna ihre Artikel nach Prag. Ihre sozialen Reportagen über einfache Menschen erzählten dabei von anderen Welten als Polaks bürgerlich-intellektuelle Wiener Kaffeehaus-Literaten es taten. Sie erzählten von den kleinen Dingen des Lebens, in denen Milena kraft ihres Scharfsinns und ihrer Sensibilität immer auch die großen Dinge gespiegelt sah. Dabei sah sie auch, was viele andere nicht sahen, wie sich das Private und das Politische stets bedingen und welche Wunder selbst in den unscheinbarsten Dingen stecken. 

 

Immer wieder sehen wir Milena in unserem Stück daher auch an ihrem Schreibtisch sitzen, wo sie einer immer größer werdenden Leserschar in ihren Zeitungsartikeln ihre Erlebnisse, Beobachtungen, Gedanken und Gefühle offenbarte. Wir sehen, wie sie in ihrer offenen Art ihr Lesepublikum auch immer wieder direkt ansprach und ihre subjektiven Sichtweisen stets selbstbewusst vertrat. Wir bekommen eine Ahnung davon, wie sehr das Franz Kafka imponiert haben muss, der ihr Schreiben verehrte wie sie das seine. Aber da Milena furchtlos war und sich nicht – so wie er – hinter der eigenen Literatur versteckte, sehen wir Milena ganz klar vor uns in ihrem Werk. Es bot sich daher an, in unserem Stück auch immer wieder Auszüge ihrer Zeitungsbeiträge einzuarbeiten, die wir als O-Ton über stummes Spiel legen, um zu zeigen, wie sehr ihre persönliche Erlebnisse und Gedanken sie auch für ihre Artikel inspirierten.

 

Die prägendsten Ereignisse

In szenischen Rückblenden sehen wir sodann auch Milenas prägendste Erfahrungen, das langsame Sterben ihrer Mutter, um die sie sich kümmerte, die Verbannung durch den strengen Vater und wie Ernst Polak, ihr geliebter und untreuer Ehemann, sie schon am Bahnhof allein lässt in der fremden Stadt. Wir erleben Milenas quälende Einsamkeit, ihre Verlassenheit in der Fremde, aber auch ihre kleinen Freuden und ihr großes Glück.

 

Ihre imaginären Kräfte

Milenas großes Glück dieser Wiener Zeit, es war die imaginäre und dabei so exzessive Briefliebe mit Franz Kafka. Wir sehen, wie sich beide in sie hineinstürzten, als er gerade zur Kur in Meran weilte, sehen, wie sie im Sommer 1920 gemeinsam viereinhalb glückliche Tage in Wien verbrachten, wie sie sein Lichtblick wurde, und wie er dann aber wieder zurückkehrte in seine Angst, die sie mit ihren Augen nur kurz niederstrahlen konnte. Wir sehen die Zweifel und Schuldgefühle, die er ihr hinterließ und wie Milena in einer sehr schwachen Stunde von ihrer Hausbesorgerin Pani gerettet wurde, die sie in einem Artikel als ihre beste Freundin verewigt hat. Wir erfahren, was beide Frauen durch die Wiener Hungerjahre nach dem Ersten Weltkrieg brachte, warum Milena auch in Wien stahl und ins Gefängnis musste und dass ihr das aber wenig auszumachen schien, da hinter der verschlossenen Tür eben nur die Wirklichkeit wartet und nicht die Welt.

 

Bis heute lässt uns Milena in ihren wunderschön fließenden, pointierten, philosophischen und poetischen Artikeln, Feuilletons und Reportagen in ihr innerstes Wesen schauen. Wir sehen dabei auch ihre dunklen Seiten, zu denen sie aber immer stand, weil sie zum Menschsein einfach dazugehören. Wir hören, was sie über das Kino schrieb, das Kafka und sie liebten, sehen, wie Milena die Welt sah, auch ihr eigenes Leben, nämlich positiv trotz allem und voller Wunder, sehen, woran ihr Blick sich schärfte, an dem scheinbar Unscheinbaren, und worauf es ihr ankam in ihrem Schreiben: Tief unter alle Oberflächen zu schauen und die Welt durch Verständnis zu bereichern.

 

Eine Schlüsselszene im Stück ist, wie Milena als Backfisch zur Erkenntnis kam, dass ein Schmerz nicht endlos sein muss und dabei schlagartig erwachsen wurde. Auch welch innere Kraft sie aus dieser Erkenntnis zog für ihr weiteres Leben. Sie erkannte damals, dass man auch den größten Schmerz selbst lindern kann und sich wieder aufrichten durch die Kraft des eigenen Bewusstseins und der Imagination.

 

Ihre Beziehung zu Kafka

Ihre imaginäre Briefliebe mit Franz Kafka war es dann auch, die Milena wahrscheinlich durch ihre harten Wiener Jahre rettete und die sie vielleicht erst zu jener Frau werden ließ, als die sie später wieder in ihr geliebtes Prag zurückkehren sollte. Nach Kafkas Tod im Jahr 1924 und ihrer schmerzhaften Scheidung von Polak begann dort für Milena ein neues Leben. Wie die Stadt selber, die aufblühte und nach dreihundert Jahren Monarchie-Zugehörigkeit ein Zentrum der Moderne wurde, blühte auch Milena auf. Ein sehr guter Boden Altneulands also, um auch als Einzelne in die Unabhängigkeit zurückzukehren. Aber das werden wir erst in unserem zweiten Milena-Stück ab Herbst zeigen.

 

Im ersten Teil soll es vor allem um die Verbindung von Milena und Kafka gehen, denn Kafka war so prägend auch für Milenas weiteren Weg, dass sich damit erahnen lässt, warum sich Milena von dieser radikalen Nachzüglerin der Romantik zu einer tatkräftigen und bodenständigen Frau entwickelte, deren Hilfsbereitschaft und Toleranz später bis zur Selbstzerfleischung gingen.

 

Die Geschichte von Kafka und Milena ist eine von Legenden umwobene und auch unser Stück will nicht nur Fakten wiedergeben, sondern ganz im Stile Milenas, wenn sie über andere Menschen schrieb, auch Empathie und Vorstellungskraft miterzählen lassen. Es geht darum, neben den biografischen Fakten auch die seelische Tiefe und die imaginären Kräfte, die diese Beziehung durchwirkten, mit zu erfassen und aus den Quellen heraus eine Stimmung zu erzeugen, die nachfühlbar macht, wie schön und tragisch zugleich diese Liebe gewesen sein muss. 

 

Dass es eine gewaltige Liebe gewesen sein musste, steht außer Zweifel. Milena und Kafka, sie wurden ein Liebenspaar, zumindest für kurze Zeit in langen Briefen, die ab Frühling 1920 zwischen Meran und Wien hin und her wechselten, oft mehrmals am Tag. Und da redeten zwei, die bald viel voneinander wussten, weil sie einander sofort vertrauten und es in beider Leben Sehnsüchte gab, die wechselseitig gestillt werden konnten, zumindest in ihrem Schreiben.

 

Er bedankte sich zunächst bei ihr für ihre Mühe des Übersetzens, für ihre Worte, und dass sie ihm zuhörte. Dann wurde die Korrespondenz rasch inniger. Von Kafka, der 13 Jahre älter war als sie und den sie Frank nannte, bekam Milena endlich die Fürsorge, die sie von ihrem Mann entbehrte. Wie ein Sturm ist sie in Kafkas Zimmer gefallen und er schloss das Fenster nicht, er machte es ganz weit auf. Ließ sie herein und spürte sie im Geiste neben sich. Er liebte ihren Schreibstil, ihre impulsive Offenheit, ihren klaren Blick, ihren wilden Lebensdrang. Er spürte ihre ganze Kraft und trank sie aus den Briefen wie seine Milch, um sich davon zu nähren. Er dankte ihr, dass sie keine Angst hatte vor seiner Angst. Und auch dafür, dass sie ihn zu trösten versuchte, obwohl sie ihn selber so bitter nötig hätte, den Trost.

 

Nach mehrmonatigem Briefwechsel wollte Milena ihren Frank dann endlich sehen und bat ihn, auf seiner Rückreise von Meran nach Prag in Wien vorbeizukommen. Aber Kafka zögerte, zauderte, hatte eine fürchterliche Angst vor Entzauberung. In den Briefen tat er sich um ein Vielfaches leichter, ihr nah zu sein, ihr alles anzuvertrauen, seine Krankheit, die TBC, seine katastrophalen Verlobungen, seine Schuldgefühle, seine Schlaflosigkeit und wie er sich fühlte in der Welt.

 

Kafka, das weiß man von ihm selbst, fühlte sich von Milena verstanden wie von niemandem sonst auf der Welt und sie schaffte es auch, ihn zu beruhigen und seine Ängste und Zwänge zumindest zeitweise zu besänftigen. Und als er dann endlich einer leibhaftigen Begegnung zustimmte, als sie sich endlich in die Augen sehen konnten, fühlte er sich sogar kurz ganz frei.

 

Diese geheimnisvollen viereinhalb glücklichen Tage in Wien im Sommer 1920, die wir in unserem Stück fantasiereich rekonstruieren, sie sollten jedoch zum Wendepunkt in Milenas und Kafkas Briefbeziehung werden. Hätten sie sich besser nicht treffen sollen in Wien? Da ich Dich liebe, liebe ich die ganze Welt, schrieb er ihr, als er wieder zurück in Prag war und seine ganze Zwanghaftigkeit brach erneut aus ihm hervor.

 

Nach Wien wollte Kafka Milena unbedingt bei sich in Prag haben, das nötige Geld wollte er zur Verfügung stellen, aber sie wollte nicht zu ihm nach Prag. Als er es begriff, kehrte sein Husten zu ihm zurück, und wieder die Angst. Trotzdem waren sie sich immer noch nah. Es muss eine sonderbare Nähe gewesen sein, wie in einem Traum. Nach dem Schweiß ihrer Körper nun wieder die eingetrocknete Schrift. Kurz hatte Kafka in Wien Milenas Körper gespürt. Er, der körperliche Nähe sonst nicht aushalten konnte. Musste er sich nun beweisen, dass er es doch schaffte, mit jemandem leben? Sich? Seinem Vater? Ertrug er es nicht, dass sie ihr Leben teilte mit Polak in Wien? So, dass er sich fühlte wie eine Maus, die nur einmal im Jahr über ihren Teppich laufen durfte?

 

Jedenfalls verfiel Kafka in eine bipolare Stimmung, die zwischen euphorischer Sehnsucht und Trauer und Schmerz pendelte. Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit mischten sich nach und nach dazu und sie sollte sogar sein Messer werden, mit dem er in sich wühlte. Wahrscheinlich aus Selbstschutz blieb ihm letztendlich nichts anderes übrig, als sich wie ein verwundetes Tier von ihr zurückzuziehen.

 

Viele Fragen tun sich auf, warum sie für ihn so übermächtig wurde, dass er sich wie ein Waldtier fühlte, das sich nur kurz bei ihr niederducken durfte, wie es in einem seiner Briefe an sie steht. Waren sie trotz ihrer tiefen Seelenverwandtschaft doch zu verschieden? Sie trotz allem ein lebensbejahender Mensch, er ein sonderbarer Einzelgänger, der nur manchmal in Gesellschaft lustig sein konnte, dann aber so richtig. Einer, der zögerte, sich auf das Leben, auf die Sitten und Normen der Gesellschaft einzulassen. In seiner ständigen Schlaflosigkeit, seinem verschleierten Blick zwischen Wachen und Träumen, in dem er manch kafkaeske Figur bzw. Situation schuf, musste er scheinbar immerfort alles bedenken. Verstrickte er sich deshalb immer mehr in den zwanghaften Gedanken, Milena und der Welt nicht genügen zu können?

 

Ihre Schuldgefühle

Und Milena? Wie verkraftete sie Kafkas Rückzug? Konnte sie ihn überhaupt begreifen? Wie reagierte sie auf seine spätere Behauptung, dass er Briefe hasse, weil alles Unglück nur von ihnen ausginge, da es ein Verkehr zwischen Gespenstern sei? Als Kafkas Lichtgestalt hatte sie sein Leid manchmal niederstrahlen können, seine monströse Angst vor der Welt, seine inneren Dämonen und seine Komplexe konnte aber auch sie nicht heilen, hatte Kafka doch heimlich beschlossen, es sich in seiner tödlichen Krankheit, der TBC, einzurichten, um den vielen Zumutungen der Welt zu entkommen. War sie nun seine größte Zumutung geworden, hatte sich plötzlich alles gedreht?

 

Wir wissen aus Milenas Verzweiflungsbrief an Max Brod, dass sie Antworten darauf suchte, die keine Psychoanalyse sein sollten. Ihre „Liebe zum Flug“ hat sie, was Frank betraf, hart aufkommen lassen auf dem Boden der Realität. Ihre Loslösung von ihm war schmerzhaft wie kein Abschied davor.

 

Zuvor hatte ihr Kafka verboten, ihm weiter zu schreiben und kehrte dann sogar wieder zurück zum Sie, als er sein Schreibverbot selbst durchbrach. Milena blieb mit einem tiefen Schuldgefühl allein zurück und hatte den Drang, sich zu rechtfertigen. Sie tat es bei Max und schrieb ihm, warum sie nicht zu Kafka nach Prag kommen wollte, um mit ihm zu leben. Mehr als nach dem Fliegen sehnte sie sich nämlich nach einem Leben, das der Erde viel näher wäre. Ihr Ja zum sinnlichen Leben, ihr Nein zur Askese, das waren ihre Gründe trotz ihrer großen Liebe zum Flug, trotz ihrer romantisch-dunklen Seite. Ob sie dies auch vor Kafka selbst so äußerte?

 

Ihre verschollenen Briefe

Man weiß es nicht. Milenas Briefe an ihn sind unglücklicherweise bis heute verschollen, während seine an sie zu Weltliteratur kristallisierten. Und so bleibt uns nur ihr atemberaubender Nachruf auf den geliebten, verlorenen Gefährten, den sie für ihre Prager Zeitung schreiben musste. Früher als alle anderen hatte Milena geahnt, was sich da mit Kafka gerade Gewaltiges heranschrieb an die Weltliteratur. Und niemand sonst hat nach Kafkas Tod 1924 so treffende Worte über ihn gefunden wie Milena Jesenská es tat.

Milena in Wien

WUNDER

Cornelia Metschitzer, 27.03.2022

Nicht müde werden, nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.

Das sind Gedichtzeilen von Hilde Domin, die uns auch heute wieder Kraft geben können, Kraft und Mut. Wer hätte geglaubt, dass uns Kraft und Mut je ausgehen würden? Wir brauchen doch alle keine Helden mehr sein, und auch keine Heldinnen, sondern dürfen sie wieder dankbar annehmen, solche Worte.

Oder Kafka. Was er einst schrieb, es hat Gewicht und Gültigkeit bis heute in seiner ganzen Heldenlosigkeit, die auch die unsrige wieder geworden ist. Aber Kafka ist eben das Gegenteil von Rhetorik. Bei ihm kommen nicht aus der Verzweiflung Helden, sondern aus dem Zweifel Antihelden. Er selber zögerte wie vor der Geburt. Doch die dunklen Mächte bemächtigten sich seiner von innen her. Die einzelne Seele, eine große und eigene böse-schöne Welt? Milena, mit der Kafka viele rettende Briefe schrieb, Milena Jesenská, sie war eine mutige Journalistin, bezahlte dafür letztlich mit ihrem Leben, und rettete das von anderen Menschen. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, nicht zu helfen. Sie zögerte nie, sich ins Leben zu stürzen und tat, was sie tun musste. Ohne viel nachzudenken dabei. Gleichzeitig schrieb sie an gegen die Entzauberung der Welt. Noch im KZ versuchte sie mit ihren Augen das Leid niederzustrahlen. Natürlich darf man auch sie nicht verklären. Denn als Heldin hätte sie sich nie gesehen. Moral war ihr suspekt. Wegen „moralischem Irrsinn“ wurde sie schon als junge Frau in die Psychiatrie gesperrt. Sie kriegte von der Wärterin einen Schlüssel und später knackte sie Kafkas Schloss. Sie war die erste, die ahnte, was sich da mit ihm Gewaltiges heranschrieb an die Weltliteratur. Wurde seine erste Übersetzerin ins Tschechische. Kafka, er schrieb Liebesbriefe an Milena, wo man sein Herz offen da liegen sieht, und er schrieb gleichzeitig unheimliche, ja grausame Erzählungen. Diese oft in wachtraumartigem Zustand. Schreiben war ihrer beider Liebe. Aber da Kafka dann doch noch auf die Welt gekommen war, scheinbar ohne Augenlider, weil er doch nie schlafen konnte, musste er alles sehen und alles bedenken. Das Licht von Milenas Augen begann ihn zu blenden und er zog sich zurück in seinen dunklen Wald. Dort sprach er den weisen Satz, dass man sich eher vor seinen vermeintlich guten Taten fürchten solle.

Irrtümer sind menschlich, Krieg ist unmenschlich, aber von Menschen gemacht. Kriegsrecht wird gebrochen, auch wenn es grotesk klingt, dieses Wort: Kriegsrecht. Und halten tut es auch nicht. Die großen Worte, sie halten nicht, was sie versprechen, die klugen Worte, sie gehen uns aus. Aber die Welt nur mit dem Verstand erfassen zu wollen, nur mit Statistiken, da fehlt doch was? Da fehlen Gründe und Abgründe. Manche beten jetzt wieder zu einem Gott, an den sie nicht mehr glauben wollten. Dabei ist der Glaube das größere Wagnis, nicht das Denken, sagt Kierkegaard. Abraham hatte schon das Messer an seinen Sohn Isaak gelegt, aber der Vater hatte Vertrauen, dass alles gut ausgehen würde für sich und seinen Sohn. Dieses Bild hat sich in Kierkegaard eingebrannt und er wollte Gott selber ein Opfer bringen, sich. Kierkegaard suchte nach einer Wahrheit, nach einer Idee, für die er als Einzelner bereit war zu leben und zu sterben. Allgemeine Wahrheiten und Gedankengebäude, in denen er selbst nicht leben konnte, lehnte er ab. Und so legte er sich an mit vielen, auch mit der Kirche, besonders mit der Kirche. Aber er liebte Jesus. Wer sollte Jesus nicht lieben können? Man muss dafür nicht einmal ein religiöser Christ sein. Man kann Jesus lieben wie einen Menschen. Das ist ja das Grandiose! Es gäbe auch heute wieder viel Arbeit für ihn, viel Hilfe zu leisten, viele Wunder zu vollbringen, viel Schuld aufzusammeln. Verschuldete, mitverschuldete und unverschuldete Schuld.

Gedankenlosigkeit kann sehr gefährlich sein. Gedanken können auch sehr gefährlich sein. Viel gefährlicher als man denkt, und das nicht nur, wenn sie sich in Kriegszeug verwandeln. Wenn auf wirre Ideologien systematisches blutiges Handeln folgt für das scheinbar einzig gültige, einzig gute Ziel. Hat man das Ziel einmal für einzig und gut befunden, werden alle Mittel Recht. Alles, was sich diesem Ziel in den Weg stellt, wird geopfert. Bis man vielleicht das Grauen vor sich selber in sich aufsteigen spürt und man sich rasch einen nächsten Mythos baut, um nicht in den eigenen Abgrund schauen zu müssen.

Auch wenn man das vermeintlich Gute will, kann es ins Schlechte, ja ins Böse kippen. Obwohl man es gar nicht wollte, im Gegenteil. Oder es nicht sah durch eine fatale Verblendung. Weil man nicht oder zu sehr geglaubt hat. Weil man eine andere, eine bessere Welt wollte.

Da muss ich sofort auch an die Ulrike denken, Ulrike Marie Meinhof, deren Lebensgeschichte mich zutiefst berührt und mir unendlich zu denken gibt. Ihre Metaphysik war zunächst schön, doch aus ihren klugen, religiösen und humanistischen Gedanken wurden später gewaltsame Phrasen. Sie wollte das Gute für alle Menschen. Das klingt gutmütig, kann aber auch brandgefährlich sein. Sie kämpfte zunächst in der Anti-Atomwaffen-Bewegung, zusammen mit ihrer Ziehmutter. Ihre Eltern verlor sie früh. Dann geriet sie an die falsche Clique. Sie geriet in die Ideologie. In ein Knäuel, aus dem sie nicht mehr herausfand, obwohl oder gerade weil sie klug war und sensibel. In dieser Clique wurde mit Ideologien Geschäfte gemacht. Das Geschäft war das Wort. Sie verschrieb sich einer einschlägigen Zeitung. Aber die Schlüsselszene von Ulrikes Tragödie ereignete sich im Leseraum einer Bibliothek. Als sie dabei mithalf, den Gefängnis-Freigänger Andreas Baader zu befreien. Die Befreiungsaktion geriet aus dem Ruder. Am nächsten Tag prangte ihr schwarz-weißes Bild in allen Blättern, an allen Wänden. Ulrike Meinhof wurde das Gesicht der RAF. Sie wurde medial an den Pranger gestellt. An diesem Pranger, nicht erst im Gefängnis, als sie sich erhängte, hat sie ihr Leben verloren. Sie konnte nicht mehr zurück.

Auch sie war vielleicht eine Kierkegaard, eine Kafka, eine Milena, nur in einer anderen Zeit, umgeben von anderen Phänomenen, hineingeboren in eine herzlose Welt, die im wiederaufgebauten Schein keine Kritik ertragen konnte. Auch Ulrike, die irgendwann begann, Gewalt gutzuheißen, für einen höheren Zweck, wurde selber das Opfer von Gewalt.

 

Wie weiß man, ob es der richtige Weg ist, den man geht, wenn erst die Rückschau zeigen kann, wohin er dich geführt hat? Was also wäre der richtige Weg? Welche Schilder stehen dort zur Orientierung und wer hat sie eigentlich aufgestellt? Wohin soll man gehen, um sich nicht zu verirren, um sich zurechtzufinden und möglichst unbeschadet zu bleiben dabei und v.a. auch keinem anderen Schaden zuzufügen? Nicht nur in Krisenzeiten ist die Vernunft in vielen Menschen nicht mehr erreichbar. Aber die Vernunft ist auch sehr hoch oben und schaut angewidert auf diejenigen herab, die noch glauben können und nicht nur wissen wollen. Glauben jedoch kann leicht ins Irreale, ja Irrationale kippen. Aber kann man nicht auch durch das Licht der Aufklärung so geblendet sein, dass man nichts mehr sieht? Kann uns der Fortschrittsglaube nicht auch an den Abgrund führen, wenn man zu fasziniert ist von all den Möglichkeiten des Geistes und der Technik? Der Fortschritt darf nicht angezweifelt werden, sonst säßen wir weiterhin auf den Bäumen, aber wenn der Fortschritt selbst wieder zum Mythos wird, wenn er die Grenzen des Denkbaren überschreitet, wenn er durch Eigenfaszination auch gefährlich werden kann in seinem Größenwahn? Wenn er neue Abhängigkeiten schafft, dadurch letztlich die Katastrophen befeuert, die er doch eigentlich so gern verhindern will?

Vielleicht ist es das Zuviel an Berechnung, das Zuviel an Nützlichkeitsdenken, die mir den Fortschritt verleiden? Und deshalb habe ich wahrscheinlich auch kein Smartphone und deshalb bin ich auch nicht auf Facebook und deshalb fühle ich mich auch so in der Kunst daheim. Dort ist das Intuitive noch nicht verpönt, das Erspüren der Welt. Dort kann man noch an Tabus rütteln und das Verborgene zeigen. Man kann dort Menschen und Welten entwerfen, die die Widersprüchlichkeiten allen Fühlens, Denkens und Handelns aufzeigen. Man kann in der Kunst v.a. auch neue Welten schaffen und dem Wunder leise die Hand hinhalten wie einem kleinen Vogel. Warum genügen uns Wunder nicht, warum braucht man immer eine Erklärung, fragte schon Milena. Fürchtet man sich dann, in die Esoterik-Schublade gesteckt zu werden? Jedoch nichts ist irrealer als die Geldwirtschaft, nichts ist irrationaler als der Krieg.

Das Irrationale, wie es auch in Kafka tief im Innersten wütete, ist nicht zwingend das Gegenteil von Vernunft. Kafka wirkte sehr strukturiert, denn er fühlte sich fremd in der Welt. Sie machte ihm Angst. Auch er lebte in einer Umbruchszeit, auch er lebte unter Seuchen und Krieg. Aber Kafka lächelte. Und auch unter seinem blauen Anzug des Versicherungsangestellten sah man seine dunkle Seele nicht. Aber manchmal in seinen Augen. Immer saß er da, meistens stumm, und nickte lächelnd. Doch das Misstrauen ist schon länger unter uns als alle Seuchen. Unser kindliches Vertrauen haben wir verspielt. Ich möchte wieder unschuldig und arglos sein dürfen wie die Kinder. Ich möchte wieder groß denken können, ohne mich vor meinen Gedanken fürchten zu müssen. Wenn man zu viel nachdenkt, wird man verzagt oder verrückt. Man will nicht aus der Bahn geworfen werden, nicht ins All fliegen und unkontrolliert Purzelbäume schlagen.

Die Macht der Gedanken. Wenn Milena in Wien vor ihrem Fenster stand, sah sie etwas, was man mit den Augen allein gar nicht sehen kann. Die Welt. Vor dem Fenster liegt die Welt, vor der Tür aber liegt nur die Wirklichkeit, schrieb sie. Eine entzauberte Welt ohne Wunder, eine mechanische Welt, die nur nach dem Realitätsprinzip funktioniert, sie war ihr zu wenig. In einem ihrer Texte heißt es so schön: Du blickst in die Gesichter von Menschen und in die Gesichter von Tieren, und es kommt dir vor, als wüsstest du etwas, was sie nicht wissen. Im stillen streichelst du sie, und du wunderst dich, wie seltsam sie leben und wieviel Arbeit sie brauchen, um essen, wohnen, lieben und fühlen zu können. Milena kannte die Geschichten dieser Menschen und Hunde nicht, weder ihre Namen, noch andere Details, aber sie konnte sie sich vorstellen kraft ihrer Fantasie und Empathie. Und die Welt dieser anderen erschloss sich ihr gerade im Nichtwissen und in einem einzigen Augenblick. Die eigenen Bilder, sind sie nicht oft größer als die Wirklichkeit selbst und haben sie nicht eine einzigartige Kraft? Und sind diese imaginierten Bilder nicht manchmal die besseren, da man sie sich selber ausmalen kann? Auch auf die Gefahr hin, dass man sich in ihnen verliert, in ihnen verschwindet? Sich verirrt in den Labyrinthen des eigenen Bewusstseins? Solange man weiß, dass man sich verirren kann, ist es gut. Wenn man aber nicht mehr weiß? Zu gut weiß man jedenfalls von den eigenen inneren Kämpfen, deshalb traut man auch den anderen draußen alles zu. Es ist überall gefährlich geworden. Drinnen und draußen. Umso verzweifelter beginnt man zu suchen. Die unbehauste Seele sucht ein Zuhause, wo sie manchmal Ruhe finden kann und Trost. Gerade in Krisen- und Kriegszeiten. Man spürt sich wieder als Mensch und beginnt das Leben zu lieben, auch wenn es schwerer ist denn je. Auch wenn man nur schreckliche Bilder sieht, die man sich gar nicht vorstellen will. Es berührt aber nur das, was man sich auch vorstellen kann. Statistiken können das Leid der einzelnen nicht ermessen. Es bleibt abstrakt, berührt nicht. Man braucht eine berührbare Seele in einem verwundbaren Körper. Das wäre doch der Mensch?

Jeder Mensch braucht etwas, an das er auch glauben kann. Und wenn er sagt, er glaube an nichts, ist selbst das ein Glaube. Doch die Metaphysik verschwand immer mehr. Wurde suspekt oder töricht. Das Wissen hat dem Glauben den Rang abgelaufen. Das Sichtbare und Messbare wurde das Gültige. Die menschlichen Innenräume bleiben verschlossen, das Unbewusste bleibt unberechenbar. Aber auch innere Kämpfe können dich zerreißen wie Bomben. Auf welches Fundament lässt sich bauen, ohne fundamentalistisch zu werden?

Das Leben steht nie still. Kein allgemeines Gedankengebäude kann es daher einhausen. Allgemeine Erkenntnisse trösten den Einzelnen kaum. Wir alle aber brauchen Trost, denn es ist wieder viel Trauer in die Welt gekommen. Kierkegaard, ihm sollten wir jetzt wieder mehr zuhören. Dem Denker des Paradoxen. In unserer paradoxen Zeit. Wie sollen wir leben, uns verhalten zu uns selbst und zu den anderen? Lebenskunst ist bei ihm alles andere als ein Wellness-Begriff, er ist existentiell. Der Einzelne, wie kann er seinem Zweifel, seiner Angst entkommen? Indem er sich Sinn sucht? Durch sinnvolles Handeln, gemein- und eigennützig zugleich? Es kommt auf jeden einzelnen an, sagt auch Milena. Und Kafka lächelt. Er hat gut lächeln, hat sich hinter seiner Krankheit versteckt, gepanzert wie ein Käfer. Er sah vieles, und seine Parabeln sind schrecklich. Ein wissender, vom Leben erschreckter Mensch, der auch dort noch wachsam blieb, wo die anderen sich bereits sicher fühlten, wie Milena in ihrem Nachruf auf den geliebten Gefährten schrieb. Der einzige „Brief“ von ihr an ihn, der nicht verschollen ist. Aber da war Kafka schon im unbebauten Teil der Welt. Die bessere Adresse momentan, hinter dem Mond? Als auch Rilke dorthin übersiedelte, gratulierte ihm Marina dazu und hörte nicht auf, ihm zu schreiben. Marina Zwetajewa, die russische Dichterin, weil er nicht gestorben war in ihrem Herzen. Der Strick, den sie sich um den Hals schlang, später, war auch eine Flucht. Aber wohin soll man fliehen, wenn man es auf der Welt nicht mehr aushält? In den Wahnsinn? Dort wohnen doch ach so viele schon.

Auch Kafka war ein Flüchtling, aber er floh nicht, wie manch anderer Genius, in intellektuelle Irrtümer, sondern zeigte sie auf, die Macht und Ohnmacht, die ganzen Paradoxien, die ganzen Missverständnisse, die auch unverschuldete Schuld der Menschen und ihren grotesken Überlebenskampf als Mäuse und Käfer und Maulwürfe. Ohne Zeigefinger, ohne Zynismus, sondern kafkaesk aus sich selbst schöpfend, in sich selbst wühlend. Und dabei doch auch immer noch an Wunder glaubend wie ein kleiner Bub. Der er nie sein durfte, weil er schon so früh besiegt worden war von seinem eigenen Vater.

Es gibt Wunder auf der Welt, die allen gehören, schrieb Milena in ihrem Fenster-Essay. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt lebt man mit ihnen, ohne sie zu bemerken, doch dann tauchen sie plötzlich vor einem auf, so tröstlich, so kostbar. Man muss nur an sie glauben können, an ein wenig Metaphysik, auch wenn man ein der Erde und dem Leben zugewandter Mensch sein will. Aber das schließt sich nicht aus. Nichts schließt sich aus. Vielleicht wäre das ja ein halbwegs gültiger Satz.

Wunder

KUNST IN DIESER ZEIT

Cornelia Metschitzer, 31.12.2021

Beginnen soll es hier damit, dass die Kunst zur Sprache kommt. Aber nicht Kunst generell, sondern Kunst in der momentanen Zeit. Und wie schwierig sie zu machen ist, wenn man nicht Weltflucht betreiben will und wenn man sich individuell mit dem unmittelbaren Heute auseinandersetzt.

 

Vielleicht erscheint die Kunst in der öffentlichen Wahrnehmung gerade nicht so wesentlich. Die Gesundheitskrise hat sich zu einer allumfassenden Krise ausgewachsen durch die unerwartet lange Dauer der Pandemie. Und alle sind damit beschäftigt, die Schäden zu minimieren, die Kernbereiche des Lebens aufrechtzuerhalten und dazu beizutragen, dass diese schwierige Zeit hoffentlich bald zu Ende geht.

 

Trotzdem ist auch der Kunstbetrieb ein lebendiger Organismus im Gesellschaftsgefüge und nicht isolierbar aus der Zeit. Menschen in der Kunst haben große Sensoren für das sie Umgebende, horchen aber auch sehr in sich selbst hinein. Der Künstler, die Künstlerin sind in ihrer Zeit verhaftet, gleichzeitig sind sie aber auch in einer Parallelwelt, da sie auch in ihren Werken leben. Kunst hört auch in den Lockdowns nie auf, weil man sie immer mit sich herumträgt.

 

In trostlosen Phasen kann Kunst auch in der Öffentlichkeit einen besonderen Beitrag leisten, diese seelisch besser zu meistern. Das gilt für die Kunstschaffenden selbst, die weiterarbeiten müssen, weil sie nicht anders können, aber auch für ein Publikum, das man weiterhin erreichen will. Und das ebenfalls weiter erreicht werden will, wenn auch nicht in der üblich großen Zahl. Kunst ist in einer Zeit wie dieser vielleicht sogar noch wichtiger als sonst. Denn sie kann Mut machen und Bewusstsein schaffen, sie kann kurzfristig ablenken vom Elend, sie kann Sorgen und Nöte aber auch thematisieren und damit anschaulich machen in veränderter Form. Vor allem aber kann Kunst Geschichten erzählen. Ganze Geschichten jenseits des Tagesaktuellen, wo Figuren aus Fleisch und Blut in ihrer jeweiligen Situation fühlen, denken und handeln und wo diese Menschen nicht nur in ihrem Jetzt erzählt werden, sondern auch, wie und warum sie so geworden sind und warum sie so denken und handeln, wie sie es eben jetzt gerade tun.

 

WUNDALAUND

Die Gegenwart ist flüchtig und in Corona-Zeiten noch viel mehr. Alles kann sich über Nacht plötzlich total umdrehen und deshalb versuchten wir in unseren bisherigen Lockdown-Projekten wie etwa bei unserer Triple-CD WUNDALAUND größere Gedankenbögen zu spannen, die von Corona weg ins Allgemeinere führen. Gleichzeitig gibt es hier aber auch die zutiefst subjektive Sicht einer Protagonistin, die zu Corona plötzlich mit ihrer eigenen traumatischen Vergangenheit konfrontiert wird. Keine direkte Auseinandersetzung also mit den täglichen Ereignissen unserer Zeit, sondern eine mit anderen Frauenschicksalen verflochtene Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte, in denen sich aber auch allgemein wiederkehrende Muster zwischen Macht und Ohnmacht abbilden. Muster von oft unsichtbarer männlicher Gewalt, die nicht nur in persönlichen, sondern auch in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu Leid, Armut, Ausbeutung und Abhängigkeit führen. Und die man gerade jetzt zu Corona auflösen könnte, wo der ganze alte Dreck wieder zum Vorschein kommt.

 

Die Zusammenschau von persönlichen und strukturellen Problemen auf metaphorische, poetische und musikalische Weise ist ein außergewöhnlicher künstlerischer Zugriff auf die momentane Realität und weist weit über sie zurück und hinaus. Und das ebenfalls auf sehr subjektive Art. Es soll ein nicht anmaßender, nicht schlau wissender Zugriff sein. Einer aber, der gerne berühren möchte, und wo die Kritik ebenfalls künstlerisch verbrämt wird und weder moralisieren noch anklagen will. Die in der romantischen Tradition stehende Erzählung setzt aber auf die sensible Wahrnehmung eines Publikums, das quasi durch die Wand mithören kann, was die Protagonistin und ihr Mann in einer Mondnacht im ersten Corona-Sommer in ihrem Haus reden, denken und fühlen. Man wird dabei Zeuge fürchterlicher, aber auch wunderbarer Geschichten, fürchterlicher, aber auch wunderbarer Gedanken und vor allem eines Bewusstwerdungsprozesses, der aus den alten Ängsten, Zwängen und Abhängigkeiten führen soll. Und der auch für die gesamte Gesellschaft wünschenswert und auch bitter notwendig wäre, um in eine heilere Zukunft zu blicken. Aber dafür muss jede und jeder bei sich selbst zu schauen beginnen, auch wenn es unbequem oder sogar schmerzhaft werden kann.

 

Man muss in einem größer angelegten Werk also einen künstlerischen und inhaltlichen Fokus legen und es dauert auch eine gewisse Zeit, bis das Werk dann auch formal fertig ist. Es kann sein, dass sich dann die Realität gerade wieder gedreht hat und dass man nicht up to date bleibt, weil neue Erkenntnisse hinzugekommen sind oder Dringlichkeiten sich geändert haben. Aber universell und subjektiv bleibt WUNDALAUND in sich schlüssig, zumal man sich spätestens dann, wenn Corona keine Pandemie mehr ist, der Diskussion stellen wird müssen, wie es weitergehen kann auf der Welt, um nicht gleich wieder in die nächste Katastrophe zu schlittern.

 

Kunst über und zu Corona lässt Inhalt und Form auf subjektive und kaleidoskopische Weise zusammenfließen und wird oft das Gegenteil von nüchterner Berichterstattung sein, ohne an gesellschaftlicher Brisanz zu verlieren. Kunst über und zu Corona literarisiert, verfremdet, fokussiert, fantasiert, allegorisiert, verdichtet, verknüpft Dichtung mit Wahrheit und will Zusammenhänge oder spezielle Wahrnehmungen oder Erfahrungen zur Anschauung und Diskussion bringen. In jeder Kunst findet Verfremdung statt, allein durch den künstlerischen Akt selbst, egal, welches Thema man berührt.

 

DAS GEMEINSAME SUCHEN

Wie immer er sich auch gestaltet, dieser künstlerische Akt, es ist und bleibt ein schwieriges Unterfangen, sich direkt in der Corona-Zeit mit Corona kreativ zu befassen und deshalb ist ein fortlaufendes Podcast-Projekt, wie wir es jetzt mit DAS GEMEINSAME SUCHEN ins Leben gerufen haben, eine sehr passende Form. Auch um vielen verschiedenen Stimmen und Stimmungen, Erfahrungen und Sichtweisen gerecht zu werden und die Perspektiven zu fächern.

 

In unserem neuen Lockdown-Projekt möchten wir nun also die Geschichten von vielen verschiedenen Menschen hören und dabei das Gemeinsame suchen. Ein strapaziertes Wort, das Gemeinsame, aber ein wichtiges, denn Corona hat die Menschen vielfach getrennt, körperlich und auch geistig und emotional. Jede und jeder erlebt die momentane Situation anders, muss auf jeweils eigene Weise fertig werden mit ihr, obwohl wir sie nur gemeinsam stemmen können. Unter all den verschiedenen Erfahrungen und Auffassungen, Verwirrungen und Verwerfungen muss es aber auch einen gemeinsamen Kern geben und den möchten wir aufspüren.

 

Ins Innerste vordringen, das kann Kunst besonders gut, weshalb sie auch eine große Ehrlichkeit zeigt, obwohl sie inszeniert ist. Aber es ist eine offengelegte Inszenierung, ein Schein, der nicht betrügt. In der Kunst kann man auch furchtloser sein als im Leben selbst, weil sie ein Schutzraum ist. Im Kleid der Kunst wird vieles erzählbarer, vieles annehmbarer, was in der Realität verdrängt oder überdeckt wird. Man kann in der Kunst tief nach innen schauen, auch innerste Schäden und Wunden hervorholen und zeigen, wie sie entstanden sind. Diese Zeit gibt uns die Kunst. Und man braucht sie auch. Denn in einer Kunst, die nicht nur Produktionen verkaufen will, ist man immer auf der Suche. Man schöpft aus sich selbst und verwandelt sich, sieht die Realität plötzlich mit anderen Augen. Man weiß zunächst nicht, wo sie einen hinführt, die Kunst. Sie kann auch mit einem durchgehen. Man überwindet dann auch leichter Grenzen. Mit der ungeahnten und treibenden Kraft der Kunst lassen sich Realitäten, Scheinrealitäten und auch Tabugrenzen überschreiten. Es kommt oft zu einer großen Öffnung, einer Öffnung des Geistes und auch des Herzens. Offenherzigkeit in der Kunst ist eine ausgestreckte Hand, die man annehmen kann.

 

Mit unserem Lockdown-Projekt möchten wir genau auf diese Öffnung bauen. Geschichten, Gedanken aus der Realität können durch Kunst umgeformt werden, so, dass man sie auch besser geben und nehmen kann. Das ist gerade bei schwierigen Themen wichtig. Dabei entsteht dann etwas Neues, etwas Anderes, das man nun auch mit neuen und anderen Augen sehen kann.  

 

Ein Kunstprojekt über Gemeinsamkeit ist nur gemeinsam möglich. Das Publikum liefert den Text, wir ummanteln ihn mit Kunst, durchdringen ihn mit Stimme und Musik. Vielleicht ist es kein Ball, den wir auswerfen, vielleicht ist es ein Band. Wir hoffen sehr, dass es ein Band ist und die verbindende Kraft der Kunst auch an diesem Projekt sichtbar werden kann.

 

Vielleicht müssen wir uns alle neu kennenlernen, um uns wieder besser zu verstehen. Vieles kommt gerade in falsche Kehlen. Weil man nicht mehr weiß, wo sie ankommen, die Worte. Weil die Vorstellungen und Meinungen so auseinandertriften zu dem vorherrschenden Thema, das viele schon nicht mehr hören können. Die großen Probleme der Welt verschwinden aber nicht von selbst und sind auch nur gemeinsam zu lösen. Wir können auch Corona nur in gemeinsamen Schritten besiegen. Und alle können dazu etwas beitragen, auch die Kunst. Und auch unsere Zukunft, wo weitere große Herausforderungen warten, wird nur gemeinsam zu meistern sein.

 

VOR DEM FENSTER LIEGT DIE WELT

Eine andere Möglichkeit, sich mit unserer Zeit künstlerisch zu befassen, ist es, Biografien und Geschichten aus der Vergangenheit zu finden und zu erzählen, die auch uns Heutigen noch viel sagen und geben können. Das machen wir mit VOR DEM FENSTER LIEGT DIE WELT, unserem kommenden Theaterstück über Milena Jesenská. Im Zuge unserer Kafka-Recherchen haben wir diese mutige Prager Journalistin wiederentdeckt, die als Kafkas innige Briefliebe bekannt geworden ist, deren eigene Lebensspuren aber kräftig genug sind, dass man ihnen nachgehen sollte.

 

Milenas Leben fiel in eine sehr bewegte Zeit mit zwei Weltkriegen, einer Epidemie und vielen sozialen Spannungen. Trotz aller Herausforderungen ihrer Zeit und vielen privaten Höhen und Tiefen verlor Milena aber nie den Mut. Auch nicht, als ihr Arztvater sie viele Monate in die Psychiatrie stecken ließ, wo man ihr u.a. „moralischen Irrsinn“ attestierte.

 

Wir werden Ihnen Milena als sehr mutige und offenherzige Frau näher vorstellen, als eine vielschichtige und widersprüchliche Frau, die auch ihre dunklen Seiten nicht verbarg und immer für sie einstand. Die schon als Mädchen Normverletzungen machte, die sie jedoch auch zur späteren Widerstandskämpferin prädestinierten. Schon als Kind übernahm Milena für ihre sterbenskranke Mutter soziale Verantwortung, indem sie sie pflegte. Später, während der Nazi-Zeit, rettete sie dann durch ihre Unerschrockenheit und ihre bedingungslose Hilfsbereitschaft vielen Menschen das Leben.

 

Milena war in jeder Hinsicht eine Grenzgängerin, ihr Lebensweg voller radikaler Wendungen, aber sie folgte ihren Überzeugungen mit einer Geradlinigkeit und Selbstlosigkeit, wie man es vermutlich nur selten findet. Und ihre große Sensibilität und innere Stärke schienen sich dabei nicht im Weg gestanden zu haben. Milena war auch voller Leidenschaft für ihren Beruf und die Stimmungen, die sie in ihren Reportagen und Feuilletons einfing, zeugen bis heute von Liebe und Empathie. Gleichzeitig war sie auch eine entschiedene und kluge Querdenkerin, was ihr auch manchmal den Job kostete. Dann musste sie auch manchmal Bettelbriefe schreiben anstatt Zeitungsartikel. Aber es war nicht beschämend für sie, helfen ist doch ganz normal, oder? Jedenfalls hat Milena immer allen geholfen, ob Freund oder Feind, und es wäre ihr völlig wesensfremd gewesen, aus ideologischen Gründen oder persönlichen Kränkungen Hilfe zu verweigern: „Wir sind keine Richter und lassen Sie uns bitte keine Moralisten sein. Wir sind Menschen. Und es ist notwendig, auch einem Feigling zu helfen…“, schrieb sie einmal an eine Leserin, die Rat bei ihr suchte. 

 

„Politische Artikel müssen geschrieben werden wie Liebesbriefe…“, auch das ein Zitat Milenas, das sie charakterisiert. Den Menschen hinter dem „Feind“ auszumachen, sei es in privaten oder politischen Zusammenhängen, war sicherlich eine der größten Stärken von Milena Jesenská in ihrem Leben und in ihrem Schreiben. Diese Frau kann uns Heutigen wirklich ein großes Vorbild sein.

Kunst in dieser Zeit
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